Der Himmel ist kein Ort
und vieler nachfolgender religiöser Denker, dass sie diesen Widerspruch
überbrückt haben, indem sie einerseits die Gegensätze verschmolzen und Jesus Christus als die Menschwerdung Gottes interpretierten,
andererseits aber den alten Gott als metaphysische Garantiemacht im Hintergrund lebendig erhielten |231| . Ohne sich auf Gott berufen zu können, wäre Jesus ein Wanderprediger geblieben, der wie viele andere mit der Zeit wieder
aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden wäre. Da er den ›Mühseligen und Beladenen‹ aus der Seele gesprochen hatte, fand
seine Lehre in den antiken Sklavengesellschaften zwar wachsenden Zulauf. Aber gerade diese Klientel verlangte göttlich beglaubigte
Heilsbotschaften und erwartete wunderbare Errettungen. Auch einer der beiden Schächer, die auf dem Hinrichtungsplatz von Golgatha
neben ihm an ihren Kreuzen hingen, hatte Jesus auf seine angeblich enge Beziehung zum allmächtigen Gott angesprochen und als
Echtheitsbeweis seiner Gottessohnschaft ein rettendes Wunder von ihm verlangt. Jesus, der sich nach einem Augenblick der Schwäche
wieder gegen seine eigenen Zweifel gewappnet hatte, versprach ihm und sich selbst, morgen würden sie gemeinsam im Paradiese
sein. Sterbend kehrte er unter das Schutzdach göttlicher Übermacht zurück. Damit begann seine welthistorische Rolle als Erlöser
der leidenden Menschheit.«
Sovic sah jetzt so aus, als habe er das Ende seines Vortrages erreicht. Aber zunächst meldete sich niemand, der etwas dazu
sagen wollte. Niemand hatte offenbar mit diesem Vortrag gerechnet. Schließlich meldete sich Thomas Häusler, ein bekannter
Theologe. Er zeigte nicht auf, um von Pauly das Wort zu erhalten, sondern sprach spontan von seinem Sitz aus mit einer wohlklingenden
Stimme, die ganz auf milde Nähe gestimmt war.
|232| »Lieber Herr Sovic«, sagte er, »während Sie mit Gott so streng ins Gericht gingen, habe ich mich gefragt, was Sie wohl für
einen Vater gehabt haben.«
»Lehrreiche Frage«, sagte Sovic. »Wenn es ein strenger Vater war, ist vermutlich alles klar. Interessanter wäre es wohl mit
einem freundlichen Vater. Aber damit kann ich auch nicht dienen. Ich habe meinen Vater nicht gekannt.«
»Entschuldigung, das tut mir leid«, sagte Häusler.
Sovic, der immer noch hinter dem Pult stand, antwortete von dort aus.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Herr Häusler. Aber vielleicht verraten Sie mir, was Sie für einen Vater gehabt haben?«
»Einen freundlichen und fördernden«, antwortete Häusler, der sich wieder gesammelt hatte. »So soll es ja auch sein«, sagte
Sovic.
Sein Lächeln war nicht ungefährlich. Es war ihm anzusehen, worauf er hinauswollte.
»Ich schließe aus Ihrer Eingangsfrage an mich, dass Sie es nicht für abwegig halten, daraus Rückschlüsse auf Ihr Gottesbild
zu ziehen?«
»Das betrifft vor allem die gefühlsmäßige Beziehung«, sagte Häusler. »Ich weiß natürlich, dass Gott unverfügbar ist und wir
keinen anderen Zugang zu ihm haben, als an ihn zu glauben.«
»Aber in Ihrem Seelenbild ist es ein freundlicher und fördernder Gott, der es gut mit Ihnen meint?«
»Das haben Sie schön formuliert, Herr Sovic. Auch die Schöpfung ist in meinen Augen nicht nur das Zufallsprodukt der Evolution,
sondern ein göttliches |233| Geschenk. Das heißt nicht, dass ich das wissenschaftliche Konzept und die Fakten der Evolutionstheorie bestreite. Aber meine
emotionale Zustimmung ist geprägt durch den Satz des biblischen Schöpfungsberichtes: ›Gott sah alles an, was er gemacht hatte,
und siehe da, es war sehr gut.‹«
»Einschließlich Pest, Cholera und Krebs?«
»Wir müssen die Natur als Totalität erkennen. Das sollten Sie als überzeugter Darwinist doch wissen.«
»Ich habe eigentlich anders fragen wollen: Einschließlich Krieg und Völkermord? Und noch anders gefragt: Ist Gott auch zuständig
für die Milliarden auseinanderdriftenden Galaxien und ihr rasendes Verschwinden im dunklen Raum und für die Schwerkraftfallen
der schwarzen Löcher in ihrer Mitte, die ganze Sternsysteme verschlingen und zu Nichts zusammenpressen. Oder ist er nur der
Lokalgott eines kosmisch gesehen winzigen, bedeutungslosen Planeten?«
»Was wollen Sie damit sagen, Herr Sovic? Das Christentum ist eine auf Menschen bezogene Religion, und sie erkennt im Begriff
der Sünde und des Abfalls von Gott die von Irrtum, Vergänglichkeit und Leiden bedrohte und hinterfragte menschliche Existenz.
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