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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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     ein ins Weltgeschehen, obwohl alle kriegsführenden Parteien sich immer wieder auf ihn berufen haben. Stattdessen gibt es die
     Vorstellung eines ohnmächtigen Gottes, der als passiver Zeuge des Weltgeschehens leidet. Ein Gott wie von Samuel Beckett,
     möchte man sagen.«
    |237| »Verblasst dieser Gott nicht allmählich zum bloßen Zitat unserer Gottesdienste?«
    »Möglich. Es gibt Tendenzen, die in diese Richtung weisen. Aber Prognosen sind nicht meine Sache. Immerhin steckt ein Potenzial
     für religiöse Wiederbelebungen in der menschlichen Bedürftigkeit nach Schutz, die man zwar sozial polstern, aber nicht ein
     für alle Mal abschaffen kann.«
    »Wollen Sie uns also keine weltliche Utopie anbieten?«
    »Beim gegenwärtigen Weltzustand lieber nicht.«
     
    Im Saal wurde geklatscht. Es war eine Minderheitenäußerung, die von undeutlichem Gemurmel begleitet wurde und wahrscheinlich
     nur bedeutete, dass man es für angemessen hielt, an dieser Stelle erst einmal Schluss zu machen, eh alles noch spekulativer
     wurde.
    Auch Pauly mischte sich ein.
    »Danke meine Herren«, sagte er. »Ihr Austausch hat uns Anregungen und zugespitzte Hypothesen gebracht, mit denen wir uns noch
     beschäftigen werden. Jetzt muss ich Sie erst einmal um Aufmerksamkeit für meinen Mitarbeiter Patrik Graefe bitten, der eine
     Mitteilung zum weiteren Verlauf des heutigen Programms machen wird. Bitte, Patrik.«
    Patrik, der in der Nähe bereitgestanden hatte, ging zum Vortragspult und sagte: »Im Schatten unserer interessanten Diskussionen
     ist inzwischen etwas geschehen: Im Garten ist ein Zelt aufgebaut, in dem es Kaffee und Kuchen gibt. Dort werden wir zu einer
     Pause erwartet. Bitte sehr«, fügte er hinzu.
    |238| Die ersten Leute bewegten sich zum Ausgang. Die meisten redend. Sovic hatte Häusler angesprochen, oder vielleicht war es umgekehrt.
     Patrik kam auf ihn und Christoph zu, um sie nach draußen zu begleiten.
    »Wird Zeit, dass ich mich um euer Seelenheil kümmere«, sagte er.
    »Vergiss nicht dein eigenes«, sagte Christoph.
    Draußen begegneten ihnen zwei junge Männer mit auffallenden Hahnenkammfrisuren. Sie trugen hellblaue T-Shirts mit der Aufschrift
     »Heaven is not a place. It’s a feeling.«
    »Hi«, sagten sie, als Patrik sie im Vorbeigehen grüßte.
    »Das waren zwei von unserer Rap-Band, die heute Abend hier auftritt«, erklärte er.
    »Mit theologischer Botschaft?«, fragte Christoph.
    »Ist ja wohl das Mindeste«, sagte Patrik.
    »Wer unterstützt denn das Ganze?«
    »Wieder einmal Hermann Sievert. Ralf kennt ihn.«
    »Nein, ich kenne ihn nicht. Er war nicht für mich zu sprechen.«
    »Die junge Frau, die umgekommen ist, war Sieverts Tochter?«
    »Ja.«
    »Aber sie ist noch nicht beerdigt.«
    »Nein, man hat sie vorläufig eingefroren. Für mich ist Hermann Sievert ›Der Eismann‹. Aber ich will ihm nicht unrecht tun.«
    Plötzlich dachte er: Morgen fahre ich nach Hamburg und besuche Luiza Suarez. Doch nichts war unwirklicher als das.
    |239| Die Nachmittagssitzung verlief spannungslos. Das geplante Gespräch über die Reformierbarkeit des Gemeindelebens kam nur mühsam
     in Gang. Eigentlich war doch fast alles geschehen. Man hatte die Sozialarbeit erweitert und mediale und künstlerische Aktivitäten
     in den Gottesdienst eingebaut. Aber die Gezähmtheit einer Trost- und Wohlfühlkirche, die keine Anziehungskraft auf Menschen
     hatte, die religiöse Inbrunst und seelische Erneuerung suchten, war so nicht zu überwinden. »Dafür haben wir nicht mehr die
     richtige Klientel«, wurde gesagt. Der durchschnittliche Gottesdienstbesucher wolle Beruhigung, Bestätigung und Harmonie. Deshalb
     könne eine Erneuerung des Glaubens nicht aus der Institution kommen, sondern nur durch erschütternde, Grenzen durchbrechende
     Erfahrungen, die man nicht organisieren könne, schon gar nicht in einer Gottesdienstroutine, die die Kirche als beruhigende
     Herberge für Schutz suchende Menschen verstand. Und natürlich war es absurd, sich eine Katastrophe zu wünschen, um die menschlichen
     Erfahrungen durch Erschütterungen und Leiden zu schärfen und zu vertiefen.
    »Sag du etwas dazu«, forderte Patrik ihn auf. »Du hast doch eine schwere Krise in deiner Gemeinde erlebt.«
    Auch Christoph nickte: »Ja, erzähl uns was über den Mordverdacht und den Streit um die Beerdigungen. Hier hast du genau das
     richtige Publikum.«
    Aber er konnte sich nicht dazu aufraffen. Er mochte nicht einmal daran denken. Was er in den

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