Der Himmel ist kein Ort
Ihr zentrales Symbol ist der leidende, der gekreuzigte Gottessohn.«
»Dessen Sterben der archaische Gottvater ungerührt zusieht als Repräsentanz der Totalität.«
»Ist das nicht ein Bild für den ganzen Ernst der menschlichen Situation?«
»Durchaus. Aber anschließend wird diese Erfahrung |234| in der Auferstehungsgeschichte wieder aufgehoben. Verständlich ist das ja. Die Mehrheit der leidenden Menschen brauchte einen
solchen Trost. Es verschaffte ihnen Distanz gegenüber der Übermacht der bedrängenden Realitäten.«
»Das ist heute grundsätzlich nicht anders. Sterben müssen wir immer noch.«
»Lieber Herr Häusler, Sie versuchen jetzt im Rückgriff auf existenzielle Fundamentalien sogenannte ewige Wahrheiten zu stabilisieren.
Aber das ist ein grobmaschiges Argument, das alle Veränderungen des menschlichen Lebens, wie wir sie heute im ersten Vortrag
gehört haben, einfach übergeht. Das Urchristentum und das Christentum der Kreuzzüge und unser sozialpädagogisches Christentum
unterscheiden sich gewaltig. Das werden Sie nicht bestreiten.«
»Nein. Aber die Kraft eines wahren Gedankens setzt sich unter historisch wechselnden Bedingungen immer wieder durch. Und Sie
werden mir doch zustimmen, Herr Sovic, dass der Gehalt einer Wahrheit nicht dadurch beeinträchtigt werden kann, dass sie auf
einem – wie Sie gesagt haben – winzigen, unbedeutenden Planeten formuliert worden ist.«
»Weiß ich nicht. Der Planet hat eine begrenzte Lebenszeit. Und das Leben der Menschheit hat voraussichtlich noch eine viel
kürzere Dauer. Dass Gott etwas ist, das außerhalb unserer Gehirne eine Existenz hat, bezweifle ich. Wenn also nach dem planetarischen
Countdown hier oder anderswo unter anderen Bedingungen eine neue Evolution begönne, würden andere Lebewesen entstehen und
in ihren anderen |235| Gehirnen andere Fiktionen. Der Gott der Bibel wäre nicht mehr dabei.«
»Müssen wir uns darüber Gedanken machen?«
»Nein. Aber verboten ist das glücklicherweise nicht.«
Im Saal war es unruhig geworden, und Pauly, der sichtlich nervös zugehört hatte, sagte: »Ich danke den beiden Herren für ihr
interessantes Intermezzo und schlage vor, wir machen hier einen Break.«
»Schade!«, rief jemand.
Sovic zuckte die Achseln, um anzudeuten, dass er gerne weitergesprochen hätte.
»Wir kommen wieder darauf zurück«, sagte Pauly.
»Worauf?«, fragte der Zwischenrufer.
»Wir werden nachher über erwünschte und notwendige Reformen sprechen. Das gibt uns genug Gelegenheiten, unseren Diskurs zu
erweitern«, sagte Pauly.
Aber er bekam Widerspruch. Aus der zweiten Reihe meldete sich ein Mann, der sich Vossländer oder so ähnlich nannte und, wie
Christoph wusste, ein Anthropologe war. Er sagte: »Wir sollten die Diskussion des Vortrages von Herrn Sovic nicht auf dieses
zugegebenermaßen amüsante Geplänkel beschränken, sondern noch einmal auf sein zentrales Statement zurückkommen. Wenn Sie gestatten,
Herr Pauly.«
Pauly, der offensichtlich genervt war, weil nichts nach Plan verlief, sagte: »Bitte sehr. Wenn es geht, in Form einer Anmerkung.«
»Danke«, sagte Vossländer. »Ich beschränke mich |236| auf eine Frage an Herrn Sovic: Ist es vorstellbar und verständlich, dass der Mensch, der im Gegensatz zu den Tieren ein nicht
festgelegtes, problematisches Lebewesen ist, das so und anders sein kann und ständig im Werden ist, das Maß und Halt gebende
Gegenüber eines Absoluten braucht, das wir Gott nennen?«
»Kulturgeschichtlich ist das so gelaufen«, sagte Sovic. »Der zornige Gott des Alten Testaments, der mit Seuchen, Sintfluten
und Dürrezeiten die Menschheit für ihre Verfehlungen bestrafte, hat durch sein strenges Regiment die menschliche Lebensordnung
geformt und immer wieder stabilisiert. Das konnte allerdings nur so lange dauern, wie es gelang, den Gedanken zu verdrängen,
dass Gott eine menschliche Fiktion ist.«
»Wie sehr dieser Gedanke gefürchtet wurde, zeigen die Ketzerverfolgungen. Schon geringe Abweichungen vom Dogma wurden grausam
bestraft. Es war eine todeswürdige Sünde.«
»Aber diese Schreckensjustiz war unvereinbar mit dem beginnenden Humanismus und der Aufklärung – laut Kant ›der Ausgang der
Menschheit aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit‹. Deshalb hat die neuzeitliche Theologie einen anderen Weg beschritten.
Sie hat Gott in die Transzendenz entrückt. Er ist unsichtbar und unanfechtbar geworden. Er schweigt. Er greift nicht
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