Der Himmel ist kein Ort
nicht lange begonnen. Der Vortragende, ein Mann von etwa vierzig Jahren, war noch nicht über grundlegende
Überlegungen hinausgelangt. Er hatte eine helle, gleichwohl monotone Stimme, die Satz für Satz aus sich herausstellte |253| und logisch verkettete. Nur in dieser Kette fanden sie ihren Halt.
»Die Philosophie als Reflexion von Erfahrung reflektiert nur die Erfahrungen, die vorkommen«, sagte er. »Erfahrungen sind
Tatsachen des Bewusstseins. Die Tatsächlichkeit der Erfahrungen ist nicht zu verwechseln mit der Tatsächlichkeit ihres Inhalts.
Der Inhalt kann unwirklich, möglich, vergangen, erdacht oder nicht tatsächlich sein. Auch die religiöse Erfahrung ist Erfahrung
von nicht Tatsächlichem. Gott ist keine empirische Tatsache, sondern dasjenige, worauf der Mensch sich in seinen religiösen
Erfahrungen bezieht. Die erste Voraussetzung eines Begriffs von Gott ist also die Erfahrung von so etwas wie Gott, mag es
nun mit diesem oder einem anderen Namen bezeichnet werden. Doch allein die Erfahrung Gottes oder eines Gottes oder eines Göttlichen
genügt nicht, um die Frage nach einem Begriff von Gott zu evozieren.
Vielmehr muss die Erfahrung affirmiert, das heißt, im Kult oder im Bekenntnis als wahrhaft behauptet sein. Ist religiöse Erfahrung
affirmiert, so wird man sich, falls ein Interesse an einer begrifflichen Fassung des Gehalts dieser Erfahrung besteht, jener
Begriffe bedienen, die dafür besonders geeignet erscheinen: ›Höchstes Sein‹, ›unendlich‹, ›absolut‹ und so weiter. Der Begriff
›Gott‹ ergibt sich hingegen auf diesem Wege nicht. Die Festlegung aber ist damit schon erfolgt, dass der transzendentale Aktus
des Entschlusses material eben dieser und nicht ein anderer ist. Freiheit als Selbstbestimmung und diese wiederum verstanden |254| als originärer Entschluss für Gehalt enthält das Charakteristikum transzendentaler Unbedingtheit.«
Wie in Luftnot und plötzlicher Panik stand er an dieser Stelle auf, schob dabei, ohne es beabsichtigt zu haben, seinen Stuhl
hörbar zurück und verließ den Raum. Erst draußen begriff er, dass sein stürmischer Aufbruch wie eine ironische Pointe des
Textes gewirkt haben musste. Hinter ihm schien das kleine Auditorium in eine Schreckstarre verfallen zu sein. Er spürte es
wie einen Sog fremder Energien, die sich an ihn zu heften versuchten, Luftgeister, die nach ihm griffen, um ihn zu halten
oder zurückzuholen. Aber er drehte sich nicht um.
Im Flur waren alle Türen geschlossen. Hinter ihnen tagten die Arbeitsgemeinschaften. Das Summen, das er ringsum zu hören glaubte,
war nur in seinem Kopf. Als müsste er die Flucht ergreifen, stieg er im Hof eilig in sein Auto und fuhr rückwärts aus dem
engen Abstellplatz heraus. »Hast du das gehört, Gott?«, sagte er laut. »Hast du es verstanden? Schneid ruhig weiter deine
Fingernägel. Mehr verdienen sie nicht.«
Noch während er auf die Landstraße fuhr, die zur Autobahn führte, konnte er sich nicht beruhigen.
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|255| VIII
IM DICHTEN VERKEHRSSTROM der Autobahn fuhr er in Richtung Norden, einem Ziel entgegen, das er vielleicht gar nicht vorfinden
würde. Die Frau, die ihm diese ungewöhnlichen Briefe geschrieben hatte – so nannte er sie jetzt in seinen Gedanken, weil sie
ihm in den letzten Tagen zunehmend undeutlicher geworden war –, wusste nicht, dass er aufgebrochen war, um sie zu besuchen.
Zurzeit wusste sie gar nichts von ihm. Denn er hatte sich aus einem inneren Widerspruch, über den er immer wieder hinweggegangen
war, nicht angemeldet. Mehrmals hatte er sich schon gesagt, dass er es noch tun müsse und auf dem nächsten Rastplatz endlich
auch tun werde. Doch an der ersten Gelegenheit war er schon vorbeigefahren.
Wie würde sie reagieren, wenn er ihr plötzlich gegenüberstand? Konnte sie sich einstellen auf so überraschenden Besuch? Völlig
überraschend war es ja nicht. Es lag nicht außerhalb ihrer Erwartungen oder ihrer Wünsche. Eher war er von sich selbst überrascht,
dass er nun zu ihr fuhr, um sich auf etwas einzulassen, was eigentlich einen anderen Menschen voraussetzte als ihn. Die Eindringlichkeit
ihrer Briefe war von ihrer seltsamen Gewissheit ausgegangen, dass sie ihn |256| besser kannte als er sich selbst. Immer wieder hatte sie die Vorstellung umkreist, dass sie einander etwas Wesentliches zu
geben hätten. Was das war, hatte sie offengelassen. Er war anfällig für solche Gedanken. Denn es fiel ihm nicht
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