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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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schwer zu
     glauben, dass er ein Mensch war, dem etwas Wesentliches fehlte. War es das Leben? Die vitale, unersetzbare Wahrheit des wirklichen
     Lebens?
    Anscheinend teilten sie diese Erfahrung. Vielleicht verband sie das?
    Es war eher so etwas wie eine gewagte Gewissheit, die sie auf ihn übertragen wollte, um sie den eigenen Zweifeln zu entziehen.
     Ein Bündnisangebot mit unabsehbaren Verheißungen. Am Schluss eines ihrer Briefe, etwas abgesetzt von ihrer Unterschrift, hatte
     sie ihre Telefonnummer für ihn notiert, sie aber in Klammern gesetzt, als handele es sich nur um eine vorsorgliche Mitteilung
     für den Fall, den erwünschten, ersehnten Fall, einer sich plötzlich ergebenden Gelegenheit, sich irgendwo zu treffen oder
     sie zu besuchen.
    Dass er gezögert hatte, auf diesen Wink einzugehen, und es vorübergehend vergessen hatte, mochte mit seinen vielen Pflichten
     und Problemen zu erklären sein. Doch er wusste es besser. Es war der Ausdruck eines ganzen Bündels unklarer, nicht überwundener
     Bedenken.
    Ja, er hätte sie anrufen müssen. Spätestens heute Morgen, als er das Seminar und die Akademie verlassen hatte. Er hatte noch
     vergeblich nach Christoph Ausschau gehalten, war dann schnell zum Auto gelaufen |257| und losgefahren mit dem Entschluss: Jetzt fahre ich zu ihr!
     
    Nun war er tatsächlich unterwegs. Ohne Vorbereitung, ohne sich anzumelden. Er fuhr in der mittleren Fahrspur der Autobahn,
     wo sich der Verkehr inzwischen zu einer dichten Wagenreihe aufgestaut hatte, die sich manchmal ein wenig öffnete, aber gleich
     wieder zusammenzog und dann kaum noch schneller war als der Schwerverkehr rechts daneben, wo die großen Lastzüge mit so bedenklich
     geringem Abstand hintereinanderher fuhren, dass sie wie eine geschlossene hohe Wand wirkten, in der es nur noch kurze Durchblicke
     auf das dahinter sich ausdehnende flache Land gab. Längere Zeit rollten rechts neben seinem Seitenfenster bedrohlich nah die
     riesigen schwarzen Pneus eines vielachsigen Kühllastzuges, der laut seiner geschwungenen blauen Aufschrift aus Taragona kam.
     Es dauerte lange, bis der Anhänger zurückblieb und das Fahrerhaus des Lastzuges neben ihm auftauchte, von dem er, langsam
     vorbeiziehend, kaum mehr als den Einstieg zur Fahrerkabine sah. Davor erschien die verriegelte Hecktür des nächsten Anhängers,
     an dem kurz die Bremslichter aufleuchteten, weil sich das Fahrttempo der Kolonne erneut verlangsamte. Mehrmals hatte er versucht,
     auf die Überholspur auszuweichen. Aber die einander jagenden großen Limousinen und Sportwagen hatten ihm keine Lücke gelassen.
     Es hätte auch nichts gebracht, denn inzwischen war auch die Überholspur dicht. Der Verkehr hatte sich in eine dreispurige
     Fahrzeugschlange verwandelt, die |258| sich abwechselnd dehnte und zusammenzog. Das lief auf einen Stau hinaus. In dem Schneckentempo, in dem sie jetzt fuhren, hätte
     er problemlos mit dem Handy telefonieren können, um sich in Hamburg anzumelden. Aber die Briefe mit ihrer Telefonnummer hatte
     er bei seiner eiligen Abreise ins Seitenfach seines Koffers geschoben, und der lag im Kofferraum.
    Egal, dachte er. Entweder ist sie da oder nicht. Wenn nicht, würde er warten und es mehrmals wieder versuchen. Und falls sie
     sich wieder nicht meldete, würde er einen neuen Entschluss fassen müssen. Darüber mochte er jetzt noch nicht nachdenken, denn
     er spürte im Voraus, dass es eine tiefe Enttäuschung für ihn sein würde, sie nicht zu sehen. Er würde sich selbst beschuldigen
     für seine Dummheit, seine Unentschlossenheit, er würde sich sagen, dass er nichts anderes verdiene.
    Nun stockte alles so weit sein Blick reichte. Er stand in einem nicht absehbaren Stau. Ob es einen Unfall gegeben hatte? Vielleicht
     konnte er schnell aussteigen und die Briefe aus dem Seitenfach seines Koffers holen. Aber das war verboten und gefährlich.
     Und vorne ruckten die Fahrzeuge wieder ein Stück weiter. Nichts zu machen, dachte er. In kurzen Schüben, mit immer neuem Aufleuchten
     der Bremslichter, setzte sich die Fahrt fort.
     
    Er kam am frühen Nachmittag in Hamburg an. Bei einer Tankstelle am Stadtrand, zu der eine Imbissbude gehörte, hatte er angehalten,
     um zu tanken und schnell etwas zu essen und zu trinken. Er wollte bei seinem |259| unerwarteten Auftritt nicht darauf angewiesen sein, bewirtet zu werden. Das wäre ein plumper, trivialer Anfang, dachte er,
     weit unterhalb ihrer gemeinsamen Erwartungen. Aber wie würde sie ihn

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