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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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empfangen? Fing alles wieder von vorne an, als sei man
     sich wieder fremd? Nein, das konnte sie nicht wollen.
    Als er ihre Briefe aus dem Seitenfach seines Koffers zog und durchblätterte, um ihre Telefonnummer zu finden und noch einmal
     den Namen ihrer Straße und die Hausnummer zu vergleichen, fiel sein Blick wieder auf eine Stelle, wo sie ihre Ängste vor der
     ersten Begegnung ausgedrückt und das Stoßgebet formuliert hatte, das sie vorher sprechen wollte: »Lieber Gott, verklär ihm
     die Augen, damit ich ihm gefalle!« Für ihn stellte das die Verhältnisse auf den Kopf. Er konnte einfach nicht verstehen, dass
     sie ihn nicht infrage stellte, sondern nur sich selbst. Aber vielleicht war es ja gar nicht so. Es waren nur Worte, um ihn
     und sich selbst auf die Leidenschaftlichkeit ihrer Erwartungen einzustellen, eine vorauseilende Phantasie.
     
    Die Ottersbeckallee war eine kurze, ruhige, von Platanen gesäumte Wohnstraße mit vier- und fünfstöckigen stuckverzierten Häusern.
     Es gab keine Parkuhren, und erstaunlicherweise waren noch mehrere Parkplätze frei. Wahrscheinlich waren viele Anwohner zum
     Wochenende aufs Land gefahren, die meisten wohl ans Meer. Morgen, am späten Nachmittag, würden sie alle innerhalb weniger
     Stunden zurückkehren. Da es eine Einbahnstraße war, hatte er zwei Wohnblocks umkurven müssen, bis er die Einfahrt |260| entdeckte. Dann aber fand er auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber ihrem Haus, einen idealen Stellplatz.
    Hier wohnte sie also. Es passte zu ihr. Doch andere Umgebungen hätten auch zu ihr gepasst. Er hatte sich nie Gedanken darüber
     gemacht, wo und wie sie lebte. Als er nun auf dem Klingelschild unter vielen anderen Namen ohne jede weitere Kennzeichnung
     Suarez las, war ihm das wie ein Trugbild erschienen.
    Nach der Anordnung der Namen zu schließen, wohnte sie im zweiten Stock. Er zögerte, auf den Klingelknopf zu drücken, denn
     er wollte sie nicht erschrecken, indem er ihr am Haustelefon sagte, er stünde vor ihrer Tür. Einem Einfall folgend, ging er
     ein Stück die Straße hinunter und rief mit dem Handy an. Er musste ungewöhnlich lange warten und wurde von dem bangen Gefühl
     ergriffen, sich in der nächsten Minute allein an einem völlig sinnlosen Ort vorzufinden, sozusagen an einem Platz außerhalb
     der Phantasie, in der er sich bis jetzt bewegt hatte. Er wartete, während die Zeit ablief, die Zeit der vernünftigen Begründbarkeit
     ihres Schweigens. Vielleicht musste sie sich erst von etwas lösen, was sie in Anspruch nahm. Vielleicht hatte sie geschlafen.
     Vielleicht war sie nicht da.
    »Ja«, sagte sie.
    Es klang lustlos. Beinahe hätte er die Stimme überhört. Überstürzt sagte er: »Hier spricht Henrichsen, Pfarrer Ralf Henrichsen
     aus Hüngsbach.«
    »Wirklich? Darauf bin ich ja überhaupt nicht gefasst.«
    |261| »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte Ihnen natürlich schreiben müssen. Ich bin in Hamburg. Die Gelegenheit hat sich plötzlich
     ergeben. Ich war bei einer Tagung, die ich vorzeitig verlassen habe.«
    »Um zu mir zu kommen?«
    »Ja. Ich hab mir gesagt, es ist eine Gelegenheit.«
    »Ich kann es noch nicht fassen.«
    »Das kann ich verstehen. Ich wollte mich von unterwegs melden. Aber Ihr Brief mit der Telefonnummer lag dummerweise im Kofferraum,
     und ich konnte nirgendwo halten, weil der Verkehr so dicht war.«
    »Verstehe.«
    Es entstand eine Pause, die er nicht deuten konnte. Dann fragte sie: »Wo sind Sie jetzt?«
    »Gleich in Ihrer Nähe. Um es genau zu sagen, in Ihrer Straße. Tut mir leid, dass ich Sie so überfalle.«
    »Nein, nein«, sagte sie hastig. »Ich freue mich. Aber ich kann Sie nicht sofort empfangen. Sie müssen mir eine Stunde Zeit
     geben.«
    »Selbstverständlich«, sagte er.
    Das klang nach unterdrückter Enttäuschung. Deshalb sagte er noch: »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
    Auch das klang falsch in seinen Ohren. Irgendwie großspurig und wenig interessiert. Er fand einfach nicht den richtigen Ton.
     Aber auch sie war nicht bei sich selbst. Ihre Stimme hatte anders geklungen, nicht so warm und so lebendig wie an der Hochzeitstafel,
     wo sie sich gegenübergesessen hatten. Es waren ja nur wenige Sätze gewesen. Doch in den Briefen, die sie ihm anschließend
     geschrieben hatte, war ihre Stimme weiter für ihn zu hören gewesen und hatte sogar noch |262| mehr an Ausdruck gewonnen. Nun hatte sie sich für ihn flach und spröde angehört, als spräche er irrtümlich mit einer anderen
    

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