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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Frau.
    Sie schlug ihm für die Wartezeit ein Gartencafé in der Nähe vor, nicht mehr als drei, vier Minuten entfernt. Sie beschrieb
     ihm den Weg, der angeblich nicht zu verfehlen sei. Aber er hatte sich ihre Beschreibung nicht merken können. Nach seinem missglückten
     Auftritt wollte er das auf keinen Fall zugeben. Stattdessen bedankte er sich, ohne das Gespräch gleich zu beenden. Es war
     ein Augenblick auswegloser Stummheit, der sich endlos zu dehnen schien, bis er begriff, dass sie leise gesagt hatte: »Komm
     bitte wieder.«
    »Auf alle Fälle«, sagte er.
     
    Als er ohne größere Schwierigkeiten das Gartencafé gefunden hatte, kam er sich wie gestrandet vor. Er hielt es für möglich,
     dass seine Reise auf einem Missverständnis beruhte. War das wieder die Wörtlichkeitsfalle, in die er geraten war? Wer war
     diese Frau? Was tat sie in dieser Stunde, die sie sich erbeten hatte? Baute sie eine Szene auf, die zu ihren Briefen passte?
     Verbarg sie etwas vor ihm? Eine heruntergekommene Wohnung? Die unübersehbaren Spuren depressiver Einsamkeit? Er kannte das
     ja, hatte es bei Karbe beobachtet und in Anfängen auch bei sich selbst, als Claudia ihn verlassen hatte. Und in den Monaten
     danach. Sein Amt hatte ihn gerettet. In seiner Seminarzeit hatte einer seiner Lehrer sich mit dem Spruch hervorgetan: Das
     Leben ist ein Abgrund und ein Amt ein Geländer, an dem entlang man hindurchgehen |263| kann. Das hatte ihm damals nicht gefallen, weil es nach seinem Verständnis Verzicht auf Leben bedeutete. Doch es hatte Situationen
     gegeben, in denen der Spruch bestätigt worden war. Erst die Briefe von Luiza Suarez hatten wieder eine andere Vorstellung
     vom wahren Leben in ihm erweckt. Er hatte sie erleuchtend gefunden, erfüllt von einem mitreißenden geistigen Schwung und einer
     Offenheit, die sich von allen kleinlichen Bedenken befreit hatte. Noch nie hatte jemand so zu ihm gesprochen. Doch während
     er hier saß, umgeben von Kaffee trinkenden und Kuchen essenden Familien oder einzelnen, sich unterhaltenden Paaren, die in
     seinen Augen eine biedere, selbstverständliche Gemeinsamkeit ausstrahlten, hatte sich das alles wieder verschleiert. Vielleicht
     hatte sie ja auch Besuch gehabt, einen anderen Mann, der auch Briefe von ihr bekommen hatte, schon vor ihm oder in letzter
     Zeit. Er wollte diesen Gedanken sofort vertreiben, aber leicht war das nicht.
     
    Er blieb zwanzig Minuten länger dort sitzen als die Stunde, um die sie ihn gebeten hatte, denn er wollte ihr mehr Zeit lassen,
     für das, was sie vorbereiten oder in Ordnung bringen wollte, bevor sie ihn empfing. Sie war hörbar in Panik geraten. Das wollte
     er nicht zum zweiten Mal riskieren. Es war rücksichtslos und auf jeden Fall unklug gewesen, auf gut Glück zu ihr zu fahren,
     in dem Gefühl, dass ihre Briefe dafür eine umfassende Lizenz waren.
    Während er in einem langsamen, klapprigen Aufzug in den zweiten Stock hinauffuhr, kam neue Unsicherheit |264| in ihm auf. Und Fremdheit war auch sein erster Eindruck, als die Aufzugstür sich öffnete. Vor ihm, in der geöffneten Wohnungstür,
     stand eine Frau in einem zitronengelben Kleid, das in einem harten Kontrast zu ihren dunklen, fast schwarzen Haaren stand.
     Er hatte ihre Haare weniger dunkel in Erinnerung gehabt, vielleicht weil er sie damals bei der Hochzeitsfeier weniger aufmerksam
     angeschaut hatte. In dem Licht, das aus der Diele und der Treppenhausbeleuchtung auf sie fiel, konnte er einige graue Fäden
     erkennen. Für ihn war das interessant und reizvoll. Vor ihm stand eine gut aussehende Frau an der ersten Schwelle zum Alter
     in einem jugendlichen Kleid. Sie lächelte. Doch es war ein Lächeln, das nach Nervosität oder unterdrückter Angst aussah.
    »Da bist du ja!«, sagte sie. »Ich hab schon gedacht, du hättest es dir anders überlegt.«
    »Wieso denn das?«, fragte er.
    »Das ist meine Unsicherheit. Unsere Situation ist ja so schwierig und so unmöglich in den Augen anderer Leute.«
    »Was für andere Leute?«, fragte er.
    »Keine bestimmten. Entschuldige, es ist … Du hast mir ja nur ein einziges Mal geschrieben. Und das ist alles, was ich habe.«
    Er wollte antworten, dass sie ihm geschrieben hatte, sie könne warten. Sie sei innerlich ganz sicher und habe Geduld. Aber
     darauf konnte er sich jetzt nicht berufen. Stattdessen sagte er: »Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich war überfordert
     in der letzten Zeit.«
    |265| »Nicht nötig«, sagte sie schnell. »Du musst mir

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