Der Himmel ist kein Ort
mich gerettet«, sagte er, als er wieder herunterkam. »In dem Zimmer hätte ich’s nicht lange ausgehalten.«
»Meins ist genauso. Die perfekte Überlebenskammer im Minimalformat.«
»Du sagst es.«
Wieder wehte ihn das Gefühl an, das er schon den ganzen Tag über gespürt, aber immer wieder abgewehrt hatte. Es war die fast
körperliche Empfindung, neben sich zu stehen und in allem, was er tat und sagte, nicht anwesend zu sein. Er fühlte sich steif
und vernebelt und von seiner Umgebung abgeschnitten. Doch irgendein Notprogramm in seinem Kopf, das |247| sich immer wieder einschaltete, erlaubte es ihm, sich trotz seiner Betäubung angemessen zu verhalten.
Auch jetzt fing er sich wieder, als sie aufbrachen und in einer nahe gelegenen, nur mäßig besuchten Kneipe einen separaten
Tisch fanden und zwei große Pils bestellten.
»Hier sitzen wir gut«, sagte Christoph.
Er stimmte ihm zu. Im Unterschied zu der Pizzeria war von den Tagungsteilnehmern niemand zu sehen.
»Als ich gegangen bin, saßen noch einige im Zelt und bedienten sich am Büfett«, sagte Christoph. »Aber die meisten sind nach
der zweiten Nummer der Rap-Band in ihre Hotels geflohen. Bei uns im Gästehaus wohnt nur das Fußvolk: Gottes Infanterie.«
»Guter Ausdruck. So bin ich mir in den ganzen letzten Wochen vorgekommen.«
»Dann darfst du jetzt deine Wunden pflegen.«
»So hat es mir Pauly schon nahegelegt. Aber was hier stattfindet, ist nicht gerade heilsam.«
Christoph nickte. »Es ist die große Konfusion. Jeder hat auf seine Weise recht. Und jeder beschränkt sich darauf. Am meisten
haben mich die Rapper angekotzt.«
»Theologisch hatten sie doch recht. Der Himmel ist kein Ort.«
»Das war für diese Typen nur ein flotter Allgemeinplatz wie Ficken ist gesund. Das ist der Tonfall, wie man sich verkaufen
muss.«
»Zum Schluss haben sie aber alles gedreht und für die Existenz der Engel plädiert.«
|248| »Na klar. Alles ist beliebig. So wollen es die Leute haben. Und wir? Was machen wir? Wir predigen doch auch nur im allgemeinen
Als ob.«
»Wie meinst du das?«
»Uns fehlen die Worte und die Wahrheiten und der Glaube. Wir simulieren nur.«
»Das sagst du jetzt aus Erbitterung.«
»Kennst du das nicht? Dieses Gefühl, etwas vorzutäuschen?«
»Ich hab mir immer gesagt, es liegt an mir. Es ist mein Versagen, meine Schwäche.«
»Das führt zu nichts. Das ist ein Zirkelschluss. Du zweifelst an dir selbst, weil die Gewissheiten schwinden. Also stehst
du nackt da, im grellen Licht kontrafaktischer Glaubenspflichten, und schämst dich.«
»Pauly wollte mich davon freisprechen, als er sagte, ich säße wie viele andere junge Leute in einer Wörtlichkeitsfalle.«
»Das stimmt. Anders geht es nicht. Ich vermute, die meisten machen sich das nicht klar. Sie glauben einfach, dass sie glauben,
und machen Dienst nach Vorschrift.«
»Gewöhnlich spricht man ja nicht darüber.«
»Was früher eine Sünde war, ist heute eine Peinlichkeit. Aber was jetzt auf uns zukommt, das kannst du wörtlich nehmen.«
Es war der Ober, der die beiden großen Pils servierte. Als Christoph ihm sein Glas entgegenhielt, sagte er: »Auf die Erlösung
vom Übel des Durstes!«
Darauf wollte er eigentlich nicht trinken. Aber er |249| wollte sich nicht als pedantischer Moralist aufspielen und sagte: »Und auf das freie Wort!«
Wie bei einem stillen Wettkampf dauerte es lange, bis sie ihre Gläser absetzten – Christoph mit einem Stöhnen des Wohlbehagens.
Er tauchte wie aus einem inneren Bad auf und schaute ihn an.
»Wann warst du zum letzten Mal betrunken?«, fragte er.
»So richtig wohl noch nie.«
»Hab ich mir schon gedacht. Dann könnten wir ja heute Premiere feiern.«
»Meinst du, das löst unsere Probleme?«
»Nein, das meine ich nicht.«
Christoph nahm einen weiteren tiefen Schluck. Er schien über etwas nachzudenken, als er das Glas absetzte. Denn er schaute
mit einem Ausdruck von Abwesenheit vor sich hin, bevor er sich ihm wieder zuwandte.
»Die Gebete der Abtrünnigen sind die einzig realen«, sagte er, nahm einen neuen Schluck und machte dem Ober ein Zeichen, dass
er ein neues Glas brauche.
Dann sagte er: »Ich hab neulich einen Satz von James Joyce gelesen – auch ein schwerer Alkoholiker und einer der größten Schriftsteller
des 20. Jahrhunderts. Joyce sagt, ein Schriftsteller müsse die Welt und die Menschen betrachten wie Gott: in oder hinter oder
jenseits oder über seinem Werk stehend, unsichtbar aus
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