Der Himmel kann noch warten
Mama.
»Beruhigen Sie sich«, sagt Lies. »Er kommt heute Nachmittag. Bestimmt.«
Mama ist nie ruhig, wenn ich mich erbrechen muss. Ist ja auch logisch. Es ist immer so ein hektisches Getue. Mit Würgen und so. Und die ganzen Geräusche.
Da, schon wieder.
»Mädchen!«, ruft Mama. »Verdammt!« Das Letzte gilt nicht mir, sondern dem Arzt, der nicht da ist.
Lies ist lieb zu mir. Sie hält die Niere gut fest. Sie hält mich gut fest. Vielleicht fällt es Mama schwer, Lies und mich so zu sehen. Vielleicht hält sie Lies ja für eine bessere Mutter. Aber Lies hat das hier gelernt und Mama nicht. Außerdem bin ich nach wie vor Mamas Tochter und nicht die von Lies. Für Lies ist es also auch viel leichter.
Ich bin fertig, denke ich. Mama hält sich die Hand vor den Mund. Sie weint schon wieder. Was fange ich denn damit an?
»Ich denke, das war’s«, sage ich.
»Sicher?«, fragt Lies.
Ich nicke. Nicken ist ein guter Test. Wenn ich noch nicht fertig bin, fühle ich beim Nicken, ob da noch etwas ist.
Lies steht auf. Sie geht die Niere ausspülen. Mama weint immer noch. Lautlos und mit viel Augenwischen. Was nun? Ich weiß es einfach nicht. Ein Wunder muss geschehen. Und wenn es nur ein kleines ist. Es ist ein guter Moment dafür. Ich schließe die Augen und zähle bis drei.
Eins.
Zwei.
Drei.
»Belle«, sagt die liebste Stimme der Welt. »Wie schön es wieder ist, dich zu sehen.«
Ich öffne die Augen. Da steht Opa. »Ein Wunder ist geschehen«, würde er sagen. Ich glaube beinahe an Heinzelmännchen.
Eine Erinnerung.
Ich war neun. Schon eine Woche. Ich war bei Opa und Oma zu Besuch und wir saßen im Garten. Wir sprachen über Papa.
»Er hat es vergessen«, sagte Oma. »So etwas kann schon mal vorkommen.«
Ich war nicht ihrer Meinung. Kein halbwegs brauchbarer Vater vergaß den Geburtstag seiner Tochter. Und wenn doch, würde er sich wenigstens hinterher dafür entschuldigen.
»Es läuft nicht gut zwischen Papa und Mama«, sagte ich.
Opa nickte. Oma nickte. Sie tauschten einen Blick. Sie wussten es natürlich schon.
»Papa bleibt immer öfter weg«, sagte ich. »Und Mama weint so viel. Und wenn sie zusammen sind, streiten sie sich.«
Opa sagte, ich solle mich einmal zu ihm setzen. Ich tat es. Er umarmte mich und ich fühlte mich eigenartig. Er sagte, es würde ihn traurig machen.
»Was?«
Opa antwortete nicht. Er umarmte mich noch etwas fester. Ich verstand ihn auch so.
»Belle?«
»Opa?«
»Eine Sache darfst du nie vergessen.«
»Was denn?«
»Diese Streitereien zwischen deinen Eltern haben nichts mit dir zu tun.«
»Wie meinst du das?«
»Sie haben dich nach wie vor gleich lieb.«
»Gleich wie was?«
Opa fand es kompliziert, aber er wollte es trotzdem erklären. Er sagte: »Es kann passieren, dass die Liebe zwischen Eltern aufhört. Verstehst du das, liebe Belle?«
»Ja.«
»Aber die Liebe zu einem Kind wird immer bleiben.«
»Immer?«
»Die geht nie vorbei.«
Oma sagte, Opa hätte ohne Wenn und Aber recht, und ich versprach, es nicht zu vergessen.
Danach aßen wir zu Abend. Hähnchen mit Kartoffeln. Als zweiten Anlauf für die Woche davor.
Opa und Mama sitzen neben meinem Bett. Es ist schön. Wir plaudern und wir warten. Wir sind nervös. Mama am meisten. Sie lässt alle Viertelstunde einmal Dampf ab. Opa am wenigsten. Er macht Scherze. Ich bin genau zwischendrin. Ich beteilige mich an Opas Scherzen und denke heimlich die ganze Zeit an heute Nachmittag. Und manchmal muss ich mich ein bisschen übergeben.
»Hebst du dir denn auch noch etwas für nachher auf?«, fragt Opa.
Mama kapiert es nicht und Opa sagt: »Damit dieser Arzt sieht, dass es ernst ist.«
Ich verspreche es. Mama findet das nicht lustig. Sie mag keine Kranken-Witze.
»Erzähl noch mal von den Heinzelmännchen, Opa«, sage ich.
»Von wem?«, fragt Opa.
»Den Heinzelmännchen und der geheimen Luke.«
»Ach, die.«
Mama kapiert schon wieder nichts. Sie schaut fragend zu Opa.
»Philosophisches Geplapper«, sagt Opa.
»Ist ja witzig«, sagt Mama. »Ich geh eine rauchen. Tut mir leid.«
Mama geht weg. Fast wäre sie mit Lies zusammengestoßen. Lies hat einen Brief dabei. Das wurde aber auch Zeit. Jani und ich haben schon vor Tagen darum gebeten.
»Belle«, sagt Lies. »Post.«
Es ist ein richtiger Brief. Nicht bloß eine Ansichtskarte. Er steckt in einem Umschlag. Ich bin neugierig.
»Opa?«, frage ich. »Magst du ihn mir vorlesen?«
»Darf ich?«, fragt Opa.
Er muss sogar. Ich fühle mich zu krank, um nur
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