Der Himmel kann noch warten
gelesen. Es zu leugnen, macht nicht wirklich Sinn.
»Manchmal gehst du mir ein bisschen auf die Nerven.«
Brie legt mein Schreibheft auf mein Nachtschränkchen. Sie fragt: »Hasst du mich?«
Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, ist Brie verschwunden, und die Aussicht hat sich von einem offenen Mund zu einem Berg in der Toskana gewandelt.
»Nicht einschlafen jetzt!«, schnattert Brie. »Du musst es sagen!«
»Was?«
»Ob du mich hasst!«
Ich öffne die Augen und sage: »Ja.«
»Ja
was
? «
»Ja,
ich hasse dich
.«
So. Es ist raus. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich das trauen würde. Und Brie auch nicht. Ihr Mund klappt noch etwas weiter auf. Sie kneift die Augen zu ganz kleinen Glasperlen zusammen. Gleich sagt sie etwas Gemeines zurück.
»Ich hasse dich übrigens auch!«
Na bitte: Ihr fällt noch nicht mal etwas Originelles ein.
»Schön«, sage ich.
Bries Mutter kommt herein. Aber Brie merkt es nicht. Sie sagt noch gemeinere Sachen.
»Du bist ein blödes, krankes Miststück!«, sagt sie. »Für mich warst du schon immer ein blödes Miststück!«
Bries Mutter traut ihren Ohren kaum. Ich eigentlich auch nicht. Aber mir macht es nichts aus. Brie ist es nicht wert.
»Alle finden dich doof, Belle, und Mek auch!«, fährt Brie fort. »Wir sind bloß deine Freundinnen, weil du krank bist, sonst bist du nämlich stinklangweilig!«
Brie hat noch nie so lange von mir gesprochen. Sonst dreht sich immer nur alles um sie selbst.
»Würdest du jetzt bitte gehen?«, frage ich.
Aus den Ohren von Bries Mutter kommen Rauchwölkchen. Dass sie so eine durchgeknallte Tochter hat, wusste sie nicht.
»Stirb doch!«, giftet Brie mich an. »Du blutleere dumme Kuh!«
Bries Mutter greift ein. Buchstäblich. Sie umkrallt das linke Handgelenk ihrer durchgeknallten Tochter.
»Au!«, schreit Brie.
»Halt den Mund!«, sagt ihre Mutter. »Hörst du mich? Deinen vorlauten Mund!«
Brie wird an ihrem Handgelenk aus dem Zimmer gezogen. Ich will, so laut ich kann, »Tschau!« rufen, aber das kapiert sie ja doch nicht. Außerdem ist sie schon weg.
Eine Erinnerung.
Ich war neun. Papa und Mama waren wie Kinder. Sie stritten sich wegen allem. Und es endete jedes Mal genau so: mit einem »Tschau!« von Papa.
»Tschau?«, sagte Mama. »Monsieur sagt wieder einmal Tschau?«
»Ach, Mensch!« Papa stampfte durch das Haus. Er nahm seine Jacke. Er machte sich aus dem Staub. Für einen Abend. Oder zwei Abende, das wusste man vorher nie.
Mama lief unten durchs Erdgeschoss. Sie weinte. Sie lief und weinte. Immer gleichzeitig. Ich blieb in meinem Zimmer. Ich hatte Papa durch die Straße radeln sehen. Er drehte sich kein einziges Mal um.
Nicht vergessen, sagte ich zu mir, dass der Streit nichts mit dir zu tun hat. Papa und Mama haben dich nach wie vor gleich lieb. Nicht vergessen. Nicht vergessen.
Nicht
vergessen.
Ich nehme mein Schreibheft. Ich lese, was ich über Brie geschrieben habe. Es ist alles die Wahrheit. Ich schreibe hinterher, was gerade Wahrheit geworden ist, und stecke das Heft in die Schublade meines Nachtschränkchens. Ich würde jetzt gern weinen. Aber dafür habe ich nicht genug Tränen. Da muss ich noch etwas länger sparen.
Ich ziehe mir die saubere Bettdecke über den Kopf. Ich hasse Brie. Was für eine blöde Ziege. Mir ist schlecht. Ich fühle mich so krank.
Ich hasse Brie. Ich hasse Mek. Ich hasse Papa. Ich hasse Mama, wenn sie dumm tut. Ich hasse alle in diesem blöden Krankenhaus. Ich hasse dieses blöde Schreibheft. Ich hasse mich selbst. Ich hasse die ganze Welt (außer Opa und Oma).
Nein. Das stimmt nicht. Mann, ich stelle mich aber auch an! (Ausrufezeichen.) Ich hasse bloß diese dumme Brie.
»Belle?«
Was denn jetzt wieder?
»Belle, bist du wach?«
Ich will »Nein!« rufen, aber darauf fällt die dicke Annie bestimmt nicht rein.
»Das wird jetzt ziemlich nervig«, sagt Annie, »aber wir nehmen dich mal kurz mit.«
»Wozu?«
»Zum Röntgen.«
Ich habe keine Lust auf Röntgen. Ich bin zu krank zum Röntgen. Ich will es nicht. Ich bleibe mit dem Kopf unter der Bettdecke.
»Belle.« Das ist Harry. Ein Bett aus dem Zimmer schieben tut man meistens zu zweit.
»Nein!« Ich bin ja vielleicht kindisch. Ich weiß sehr wohl, dass diese Aufnahmen gemacht werden müssen. Sonst kann Doktor Baars morgen nämlich nichts Vernünftiges sagen. Aber ich bin so wütend und es geht mir so schlecht.
»Belle«, sagt Harry noch einmal. »Los geht’s.«
Das ist so gemein am Krankenhaus. Andere
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