Der Himmel so fern
Balance, ihre Zehen versuchten noch Halt zu finden und dann … der Fall.
Wann war der Gedanke aufgetaucht? Kurz bevor ich losließ oder erst danach? Oder genau in dem Moment, als alles auf dem Spiel stand. Als das Leben noch Fakt war, doch das Ende unausweichlich.
Man sagt, vor dem Tod sehe man sein Leben Revue passieren. Welch unpassender Vergleich! Wenn der Tod bevorsteht, hast du nichts zu lachen und auch keine Zuschauer, die applaudieren. Vielmehr ist es ein Trailer für einen Film, von dem du vergessen hast, dass du ihn kennst. Einzelne Szenen, die dich an eine Handlung erinnern, die du nicht mehr richtig im Kopf hast. Wie eins zum anderen kam. Und dein Leben zu dem wurde, was es war, wie sich bei einer Kette Glied für Glied aneinanderreiht. Du dachtest, jedes für sich sei ein einzelnes Ereignis, doch in Wirklichkeit waren sie Bestandteile ein und derselben Geschichte. Deiner Geschichte. Und der deiner Lieben.
Keine Revue. Zumindest nicht, als ich fiel.
Wie kann sich die Perspektive so extrem verändern, so überwältigend, so schnell? Als ich noch dort stand – am Ende der Welt – nur in Strümpfen, die Hände krampfhaft am rostigen Geländer, war ich meiner Sache vollkommen sicher gewesen. Das weiß ich ganz genau. Wie überzeugt ich war. Und dann, wie im nächsten Augenblick genau diese Sicherheit wie weggeblasen schien. Denn in der Sekunde, als ich losließ, änderte sich alles.
Das Fallen selbst dauerte eine Ewigkeit, und ich sah eine aufgeräumte Wohnung mit abgenutzten Möbeln, eine Mutter, die vor lauter Arbeit nicht merkte, was geschah. Einen Vater, der auftauchte und wieder verschwand wie die Gezeiten, nur dass es keinen Mond gab, der den Rhythmus bestimmte. Eine kleine Schwester, die ruhig atmend im Bett neben mir schlief. Da waren Sehnsüchte, das Ziel vor Augen und eine enorme Müdigkeit. Korrigierte Schriftsätze, zufriedene Gesichter und Schulterklopfen. Da waren Geschäftsessen spät am Abend, ein fester Händedruck und dunkle Anzüge. Orientalische Teppiche mit komplizierten Mustern, Autos, die von der Inspektion kamen, Flugreisen in der Businessclass und Abendessen an Tischen mit edlem Leinen gedeckt. Ich sah teuren Schmuck, leere Kognakschwenker, Kartoffelbrei und Ketchup. Und ich sah Hunde, kleine struppige und große schmuddelige.
Aber vor allem sah ich Mikael. Ich schrie
»Halt!«
, denn diesen Teil des Filmes kannte ich gut, und den wollte ich nicht sehen. Aber mein Protest nützte nichts. Sein trauriger Gesichtsausdruck und Bilder seiner Verzweiflung und seiner Resignation liefen im Kreis um mich herum. Ich liebe dich, sagte er, und das Echo seiner Stimme reichte über den ganzen Horizont.
Ich liebe dich, begreif’ das doch endlich!
Wie hatte ich eine so starke Stimme überhören können? Darauf weiß ich keine Antwort, ich kann nur erzählen, wie mein Fall zu Ende ging. Wie Ewigkeiten verstrichen, dazu Mikaels Worte in meinen Ohren. Wie ich es auf einmal verstand. Ich liebe dich, hatte er gesagt, und das war die Wahrheit. Unsere Liebe war keine Erfindung, sie war auch kein Missverständnis, keine Einbildung. Das Echo, das da von jedem Stern in diesem Universum hallte, war der Beweis genau dieses Bekenntnisses. Wie hatte ich nur daran zweifeln können, und wie konnte ich es zulassen, dass mich derartige Nichtigkeiten an den Rand dieses Felsvorsprungs klettern und springen ließen?
Der Trailer des Films ging zu Ende, und ich öffnete meine Augen, die sofort von Kälte und Fahrtwind zu tränen begannen. Es war ergreifend, dass mein Körper bis zuletzt so reagierte, als wäre ich gerade mit meinem Mountainbike auf der Schussfahrt, mehr nicht. Vielleicht war es gerade die Reaktion meines Körpers, dieses Gefühl, noch am Leben zu sein und dieser Welt anzugehören, dass aus den Worten irgendwo in mir schließlich ein Gebet wurde. Jemand musste eingreifen und verhindern, was gerade geschah.
Und ich betete, wie ich noch nie gebetet hatte.
Und ich wurde erhört, denn mein Fall wurde gestoppt. Allerdings von hartem Asphalt.
Als ich die Augen wieder aufschlug, wusste ich nicht, was ich glauben sollte. Einen kurzen Augenblick lang war mir, als hätte ich alles nur geträumt – ein unheimlicher und ganz entsetzlicher Traum, doch mein Blick fiel weder auf die Dunkelheit meines Schlafzimmers mit seinen wohlbekannten Silhouetten noch auf eine anonyme Hotelzimmerwand. Stattdessen befand ich mich wieder auf der Klippe, und Stockholm glitzerte unter mir zwischen dem schwarzen Himmel
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