Der Himmel ueber Dem Boesen
einem alten Haus mit mehreren Stockwerken, und Jane hatte den Dachboden besetzt. Merrily hatte gedacht, sie käme inzwischen mit dem obersten Stock zurecht.
Hier in der Kirche gab es noch mehr Treppen, die sie lieber mied: die glänzenden Holzstufen, die zur Kanzel führten. Merrily wusste, dass sie an diesem Morgen dort oben stehen sollte: kleine Frau, große Gemeinde, selbst für Oktober, wo sowieso immer mehr Leute kamen, weil kein Rasen mehr gemäht werden musste und die Kinder keine Ausflüge mehr machen wollten. Ziemlich weit vorne saß Big Jim Prosser, der die Öffnungszeiten seines Ladens zum Ende der Urlaubssaison verkürzte. Und da war Kent Asprey, Frauenschwarm, joggender Arzt, der nach einem Midlife-Crisis-Liebesabenteuer wieder zu seiner Frau zurückgekehrt war. Ein reumütiger Kent – aber wahrscheinlich nur eine Woche lang.
Merrily setzte tastend den Fuß auf die erste Stufe und zog ihn dann wieder zurück. Über den Sommer und die ersten Herbstwochen, als die Gemeinde noch kleiner war, hatte sie immer auf einem Fußkissen auf den Stufen zum Altarraum gesessen und nicht gepredigt, sondern versucht, die Gemeindemitglieder ins Gespräch zu ziehen, und es hatte sich ein Gefühl von Wärme und Einigkeit ausgebreitet. Merrily fand das aufregend und war nie sicher gewesen, wohin die Situation führte. Eines Sonntags hatte es sich spontan zu einer gemeinsamen Meditation entwickelt.
Das würde heute wohl kaum passieren. Die Gemeinde war wie ihr Bett: zu groß, zu kalt, zu still. Und angeschwollen durch zu viele vergleichsweise Fremde, deren Anwesenheit nur durch die Neugier zu erklären war, die Merrilys Verbindung – durch Gomer – mit der Roddy-Lodge-Sensation hervorrief.
Es war ein kleines County. Jeder kannte jemanden, der etwas mit der Lodge-Familie oder den Familien der vermissten Mädchen und Frauen zu tun hatte. Jeder hatte die Fernsehreportagen mit den immer gleichen grausigen Bildern gesehen und die Zeitungen, die die geschmacklose Schlagzeile des
Daily Star
variierten:
«Ich bin der größte
Serienmörder aller Zeiten!» –
Schockiertes Dorf erlebt
FLAMMENTOD AM HIMMEL
Underhowle, so wurde berichtet, befand sich im Ausnahmezustand. Fast hundert Menschen, darunter kleine Kinder, hatten das Geständnis von Roddy Lodge mit angehört und ihn dann sterben sehen. Viele standen unter Schock und waren deshalb in Behandlung.
Und die Schockwellen strahlten nach draußen.
DIE SPUR DER BESTIE VON DER GRENZE
Am dritten Tag ähnelten die meisten Schlagzeilen dieser, mit der die
Mail
aufmachte. Wo hatte Roddy Lodge gearbeitet? Wo könnte er die Leichen vergraben haben –
Liegt auch unter IHREM Abwassertank eine Leiche?
, hatte die
Mail
gefragt. Inzwischen wurde spekuliert, dass das die falsche Spur war: Wahrscheinlich war es eine einmalige Verlegenheitsmaßnahme gewesen, Lynsey Davies’ Leiche unter dem Efflapure verschwinden zu lassen – vielleicht hatte Lodge zu der Zeit eine Entdeckung befürchtet. Ein Mörder mit eigenem Bagger hätte jedenfalls bestimmt sehr viele Möglichkeiten gehabt, seine Opfer verschwinden zu lassen.
Die Leichen konnten also überall sein.
In ganz Herefordshire und dem Forest of Dean war es
das
Thema, und Merrily hatte sich verpflichtet gefühlt, es anzusprechen,und eine Predigt über das Leben und den Tod Roddy Lodges entworfen. Warum gab es solche Menschen? Warum hatte Gott die Serienmörder erschaffen?
Gar nicht so leicht. Ja, warum eigentlich?
Das war natürlich nicht die Frage, die zufriedene Sensationsjournalisten stellten, während die Suche nach den Leichen andauerte und die Polizei immer wieder die Angehörigen der vermissten Frauen und Mädchen in den fünf Countys befragte. Zeitungs- und Fernsehreporter strichen durch Underhowle, und jetzt, da der Mörder, der in aller Öffentlichkeit gestanden hatte, nie vor Gericht kommen würde, war sämtlicher Spekulation Tür und Tor geöffnet.
Und die Polizeivertreter waren in diesem Fall … ja, wer eigentlich? In den Zeitungen wurde Bliss nicht erwähnt. Auch DCI Annie Howe nicht. Sämtliche Pressekonferenzen wurden von einem Detective Superintendent Luke Fleming geleitet. Merrily registrierte, dass in keiner Zeitung etwas von Roddys geschmackvoller Schlafzimmerdekoration stand. Jetzt, da er tot war – warum nicht?
Merrily hatte jeden Tag damit gerechnet, dass die Polizei ihre Verwicklung in die Entdeckung von Lynsey Davies’ Leiche enthüllen würde, doch obwohl so viel getratscht wurde, hatte
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