Der Himmel über der Heide (German Edition)
des wunderschön gelegenen Waldfriedhofes, wo es nur jüngere Einzelgräber gab.
Mit diesem einsamen Grab konnte Kati einfach nichts anfangen. Außerdem war die Vorstellung, Jules Namen auf einem Grabstein zu lesen und ihr Geburtsdatum, das ja nun mal auch Katis eigenes war, für sie so grauenvoll, dass sie es nie über sich gebracht hatte, dorthin zu gehen.
Aber vielleicht hatte Flo recht. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie aufhörte, Orte und Menschen zu meiden, die sie an ihren großen Schmerz erinnerten.
«Ich war noch nie an Jules Grab», sagte Kati leise und sah ihre Freundin verlegen an. «Ich meine, außer bei der Beerdigung natürlich.» Sie dachte noch einen Moment nach, dann fügte sie entschlossen hinzu: «Aber ich weiß, dass ich irgendwann mit meiner Vergangenheit klarkommen muss. Ich darf nicht mehr vor allem weglaufen … Und wenn es so weit ist, zeige ich dir die Stelle gerne.»
Flo nickte Kati aufmunternd zu und wollte gerade etwas erwidern, als jemand nach Kati rief.
«Warte mal!», hörte sie eine männliche Stimme. Kati drehte sich um und erkannte Volker Kruse, einen alten Freund aus Schulzeiten. Sie nickte ihm erfreut zu, als er auf sie zukam. Er hatte sich kein bisschen verändert: mittelgroß und schlank, dunkelblondes, gepflegtes Haar, Jeans und helles Hemd, sportliche Schuhe, unterm Arm eine Zeitung. Um die Augen sah Kati ein paar Lachfalten. Er wirkte zufrieden.
Kati reichte ihm die Hand und stellte ihm Flo vor. «Ich habe meiner Freundin gerade unsere alte Schule gezeigt.»
«Ja, damals …» Er sah zu dem Gebäude. «Das ist Lichtjahre her!» Dann lächelte er Kati an. «Und wann haben wir uns das letzte Mal gesehen? Vielleicht auf dem Heidemarkt?»
Kati musste gestehen, dass sie sich an ihre letzte Begegnung gar nicht mehr erinnern konnte.
Schnell erklärte sie Flo, dass der alljährliche Heidemarkt zwar eine Art Jahrmarkt für Touristen war, aber auch eine gute Gelegenheit, um alte Bekannte wiederzutreffen.
«Sag mal, Kati», sagte Volker und machte ein besorgtes Gesicht. «Wie geht es denn deinem Vater? Ich habe ja Schlimmes gehört.»
Kati seufzte. Sie hatte wenig Lust, ein langes Gespräch über den Gesundheitszustand ihres Vaters zu führen. «Er liegt im Krankenhaus in Soltau, aber es geht ihm schon viel besser.» Sie bemühte sich, schnell das Thema zu wechseln. «Was machst du denn so?»
Wenn sie ehrlich war, musste Kati zugeben, dass es sie wirklich interessierte. Volker war immer einer der netteren Jungs in ihrer Clique gewesen.
«Ich bin mittlerweile dreifacher Vater, inklusive Zwillingen!», erklärte er nicht ohne Stolz. «Und ich arbeite als Architekt in meiner eigenen kleinen Firma.» Mit einem fast entschuldigenden Blick auf Flo fügte er noch hinzu. «Wie mein Vater.»
«Siehst du», sagte Kati lachend und wandte sich ebenfalls an ihre Freundin. «Hier bleibt immer alles in der Familie.»
«Dann müsstest du ja bald den Heidehof übernehmen!», warf Volker ein. «Der Hof soll doch erhalten bleiben, oder?»
Der forschende Blick, mit dem sie ihr alter Schulkamerad musterte, war Kati beinahe ein wenig unheimlich.
«Äh, ja sicher», stammelte sie.
«Also, wann wirst du wieder herziehen?», fragte er spöttisch.
«So weit kommt es noch!» Kati lachte. «Nein, ich habe nur Urlaub genommen und helfe zu Hause ein bisschen aus.»
«Kommt ihr denn so weit klar?», fragte Volker ernst. «Für euch Weidemanns ist das ja nicht der erste Schlag …»
Wie zum Trost legte er ihr die Hand auf die Schulter. Und mit einem kurzen Seitenblick auf Flo fügte er noch hinzu: «Ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt.»
Kati lächelte ihn dankbar an. «Nein, nein. Flo ist meine beste Freundin. Sie opfert sogar ihr Wochenende, um uns zu helfen.»
«Tja, also, ich mache mich jetzt auf den Weg. Die Kinder warten.» Er gab ihnen zum Abschied die Hand. «Aber wenn du Hilfe brauchst – du kannst mich jederzeit anrufen. Ich bin übrigens auch im Gemeinderat.»
Er holte eine Visitenkarte aus seinem Portemonnaie und überreichte sie Kati. Dann nickte er und ging weiter.
Nachdenklich blickte Kati ihm hinterher und steckte das Kärtchen weg.
«Der war aber nett», sagte Flo und fuhr sich durch die Haare. «Wahrscheinlich eine gute Partie, so ein Gemeinderat, oder?»
Kati lachte und stupste ihre Freundin an. «Komm, lass uns die Räder holen!»
***
Sie fuhren über das alte Bauerndorf Borstel in der Kuhle, das seinem Namen alle Ehre machte, weiter Richtung Hörpel.
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