Der Himmel über der Heide (German Edition)
Volkwardinger sich die Steine nicht zurückholen konnten, haben sie sofort mit dem Bau angefangen.»
«Sehr schlau. Aber Volkwardingen ? Das ist ja wieder so ein lustiger Name», entfuhr es Flo amüsiert.
«Ein Nachbarort, der auch zur Gemeinde gehört. Jedenfalls haben die Volkwardinger ’ne lange Nase gemacht. Und ich glaube, das wurmt manche bis heute.» Kati sah sich um. «Mein Vater ist hier übrigens zum Konfirmandenunterricht gegangen», erklärte sie und zeigte auf ein anderes Gebäude. «Das Gemeindehaus da drüben gab’s damals noch nicht, da hab ich dann Konfer gehabt.»
«Konfer …», murmelte Flo und schüttelte den Kopf.
Aber Kati ließ sich nicht beirren. «Die Kirche ist im Übrigen schon über 650 Jahre alt!», erklärte sie stolz. «Man kann sich leicht vorstellen, warum heutzutage Hochzeitspaare aus ganz Norddeutschland herkommen, um sich in dieser Kirche trauen zu lassen.»
Anerkennend drehte Flo sich einmal um sich selbst und betrachtete nun auch die imposanten Eichen, die dieses alte Gotteshaus mit seinem leicht eingesunkenen, roten Ziegeldach zu beschützen schienen.
«Das ist ja mal wirklich wahnsinnig romantisch», sagte Flo und vergaß vor lauter Begeisterung ihr Eis. Sie drehte sich erneut im Kreis, um alles aufnehmen zu können, und plötzlich lag ein freches Grinsen auf ihrem Gesicht. Sie deutete auf ein Gebäude in der Nähe, das wie eine typische Schule aussah und erklärte: «Und dort können die frisch Vermählten dann gleich ihren Nachwuchs anmelden.»
Kati verdrehte die Augen. «Das ist wirklich meine Schule. Hier sind meine Schwester und ich von der ersten bis zur sechsten Klasse gewesen, bevor wir dann jeden Tag mit dem Bus nach Soltau zum Gymnasium fahren mussten.»
«Deine Schwester? Du hast eine Schwester?» Flo machte große Augen.
«Ja … Jule.»
«Jule? War das Aquarellbild auf der Treppe also für sie?»
Kati nickte kurz, dann blickte sie etwas verlegen zu Boden. Sie wollte und konnte nicht darüber sprechen. Auch nicht mit ihrer besten Freundin.
«Was ist los?» Offenbar hatte Flo bemerkt, dass sie mit ihren Gedanken plötzlich ganz woanders war.
Kati schüttelte stumm den Kopf.
«Was ist mit deiner Schwester?» Flo trat näher an sie heran. «Du weichst mir immer aus, wenn es –»
«Sie ist tot.» Die Worte kamen nur so aus Kati herausgeschossen.
Vor Schreck hielt Flo sich eine Hand vor den Mund.
«Sie ist vor zehn Jahren gestorben … Aber ich möchte nicht darüber sprechen», fügte Kati schnell hinzu.
«Okay.» Flo nickte. «Tut mir leid … Ich … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.»
«Ist schon in Ordnung.»
Nach einer Weile strich Flo ihr über den Rücken und sagte: «Du weißt, wenn du irgendwann mit mir reden willst, bin ich immer für dich da. Vielleicht willst du mir ja irgendwann mal was von ihr erzählen oder mir ein Foto von ihr zeigen oder so.»
Kati lächelte schief. «Da kann ich dir genauso gut welche von mir zeigen. Jule war meine Zwillingsschwester. Unsere Mutter und später auch unsere Oma haben uns immer in die gleichen Klamotten gesteckt.»
Ihr kam das Klassenfoto in den Sinn, auf dem sie beide in der Mitte saßen und genau gleich angezogen waren. Die Lehrer hatten es irgendwann aufgegeben, sie auseinanderhalten zu wollen, und verzweifelten jedes Mal, wenn sie und Jule nicht auf ihren angestammten Plätzen saßen. Kati musste auch an die großen und kleinen Pausen denken, die sie mit ihrer Schwester immer am Turngerüst auf dem Schulhof verbracht hatte. Von den vielen Drehungen an den Stangen holten sie sich immer blaue Kniekehlen.
«Ich hatte nie so einen engen Draht zu meiner Schwester», sagte Flo seufzend. «Aber sie ist ja auch viel älter als ich und ganz anders drauf.»
Langsam gingen sie wieder zurück zu ihren Fahrrädern.
«Wo ist sie denn beerdigt, deine Schwester?», fragte Flo unvermittelt, und Kati wusste zunächst nicht, was sie darauf antworten sollte.
Seit der Beerdigung war sie nicht ein einziges Mal an Jules Grab gewesen. Sie hatte einfach nicht die Kraft dazu gehabt.
Bei ihrer Mutter war es anders. Jedes Jahr ging Kati am Geburtstag der Mutter zum Waldfriedhof, um einen Strauß ihrer Lieblingsblumen aufs Grab zu legen. Lilien. Natürlich legte sie die Lilien stets auch in Jules Namen dort ab, weil die Schwestern es immer so gemacht hatten. Annette war bei ihren Eltern in einem Familiengrab beigesetzt worden. Für Jule war dort leider kein Platz mehr gewesen. Sie lag am anderen Ende
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