Der Himmel über der Heide (German Edition)
Sie atmete tief ein und fragte sich, ob das ein Zeichen war. Ein Zeichen dafür, dass es längst an der Zeit war, wieder mit der Malerei zu beginnen.
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16
Als Kati am späten Nachmittag mit ihren Arbeiten fertig war, stahl sie sich unbemerkt davon und ging vom Haupthaus Richtung Schuppen. Sie wollte nachsehen, ob dort wirklich noch ihre Malsachen lagen, wie Dorothee gesagt hatte.
Beim Öffnen der schweren Tür quietschten die Scharniere. Vorsichtig trat Kati ein und blieb stehen, um ihre Augen an das spärliche Licht zu gewöhnen. Durch die schmalen Fenster fiel zwar Licht, doch die Scheiben waren schon seit Jahren nicht mehr geputzt worden. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase, und mit ihm wurde Kati in ihre Kindheit zurückversetzt. Damals, als sie und Jule auf dem weitläufigen Gelände des Heidehofs Verstecken spielten, diente ihnen der Schuppen oft als Unterschlupf. Hier hatte immer schon so viel Gerümpel herumgelegen, dass es unzählige Ecken gab, wo man lange unentdeckt bleiben konnte. Das heruntergekommene Gebäude war auch alljährlich das Highlight ihrer Kindergeburtstagsfeiern gewesen.
Mittlerweile hatten sich Katis Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Neugierig sah sie sich um. Überall standen Relikte aus der Vergangenheit – verrostete Fahrräder, die früher von den Gästen geliehen werden konnten, ein altes Spinnrad, aber auch jede Menge rostiger Gartengeräte sowie diverse alte Möbel, die dringend eine Restaurierung nötig gehabt hätten. Bewundernd betrachtete sie die Schränke, Tische, Stühle und Spiegel aus massivem, zumeist dunklem Holz. Ihre Mutter hatte sich früher in ihrer spärlichen Freizeit mit Hingabe der Aufarbeitung alter Möbel gewidmet. Fasziniert hatten sie ihr als Kinder dabei zugesehen, wie sie das alte Holz abschliff und der Oberfläche zu neuem Glanz verhalf. Kati fragte sich, woher ihre Mutter die Techniken wohl gekannt hatte. Eine Ausbildung zur Restauratorin hatte sie jedenfalls nicht gemacht. Doch Kati wusste, dass ihre Mutter viele Bücher zu dem Thema besessen hatte, auch wenn sie sich nicht erinnern konnte, ihre Mutter jemals beim Lesen gesehen zu haben. Ob die alten Ratgeber wohl noch etwas taugten?
Gleich links neben der Schuppentür stand wie eh und je ein alter Bauernschrank. Sein dunkelgrüner Lack war an manchen Stellen abgeblättert und hatte mit den Jahren an Glanz verloren. Sie trat näher und ließ ihre Finger über das Holz wandern. Dann pustete sie sich den Staub von den Fingerspitzen und kniete sich hin. Zunächst musste sie umständlich ein paar Kisten zur Seite schieben, um eine der Türen öffnen zu können. Schon purzelte ihr ein großes Einweckglas entgegen, in dem jede Menge alter Pinsel steckten. Kati nahm einen in die Hand und ruckelte an dem Pinselkopf, worauf die Einfassung sofort abbrach.
Ich sollte mir einen neuen zulegen, dachte Kati lächelnd. Ob sie es wirklich noch einmal mit dem Malen versuchen sollte, wie Dorothee es ihr angetragen hatte? Warum war ihr Interesse daran überhaupt erloschen?
In Wahrheit kannte Kati die Antwort auf diese Frage.
Vorsichtig versuchte sie, die untere Schublade des Schranks aufzuziehen. Doch das Ding klemmte. Erst als sie ein wenig kräftiger daran zerrte, bewegte sich das verzogene Holz. Aus der Schublade quoll ein übergroßer Stapel Papier. Kati nahm wahllos einige Bögen heraus und blätterte durch etliche kleine Skizzen und ein paar vergilbte Aquarellbilder. Kopfschüttelnd besah sie sich die mal mehr, mal weniger geglückten Arbeiten.
Es war ungefähr so, als würde man sich etwas peinlich berührt Fotos aus Jugendzeiten ansehen, dachte Kati. Mit einer Mischung aus Faszination und Irritation begutachtete sie auch ihre allerersten Werke.
«Das gibt’s ja gar nicht», sagte sie leise. Es rührte sie, dass Elli die Blätter all die Jahre aufbewahrt hatte.
Als sie eine Serie mit Bildern vom Heidehof fand, kam ein unbestimmtes Gefühl von damals wieder in ihr hoch. Kati musste etwa siebzehn Jahre alt gewesen sein, als sie diese Bilder gemalt hatte. Auch wenn ihr die Motivauswahl nicht mehr besonders originell erschien, gefielen ihr die Technik und auch die Wahl der Farben durchaus noch. Ein Bild zeigte die große grüne Eingangstür zum Haupthaus, ein anderes den verzierten Giebel samt Reetdach.
Kati seufzte. Es war ein sehr heißer Sommer gewesen damals. Noch gut konnte sie sich daran erinnern, dass Jule und sie oft auf dem Hof ausgeholfen hatten, um ihr Taschengeld
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