Der Himmel über der Heide (German Edition)
grünen Ding und füllte es mit Wasser. Die Lilien passten sehr gut hinein, doch am Grab fiel es Kati dann gar nicht so leicht, den richtigen Platz für die Vase zu finden. Umständlich probierte sie mehrere Stellen aus und tat dabei einen unvorsichtigen Schritt, sodass sie sich mit der freien Hand auf dem Grab abstützen musste. Sie erschauderte.
Schließlich platzierte sie die Lilien links neben dem grauen Grabstein und zwar so, dass die Blumen im Gegensatz zu dem bunten Strauß auf der anderen Seite sofort auffielen. Sie trat zurück auf den Weg und ging in die Hocke. Regungslos starrte sie vor sich hin.
«Bitte verzeih mir, Jule», begann sie leise mit ihrer Schwester zu reden, «ich konnte nicht früher kommen … Es … es ging einfach nicht.»
Katis Blick verwässerte durch eine Träne, die langsam ihren Weg über die Wange fand. Mit einer Hand wischte sie sich übers Gesicht.
«Du … fehlst mir so! Warum hast du mich bloß allein gelassen? Wir haben doch immer zusammengehört …»
Plötzlich wurde Kati überwältigt von dem Gefühl innerer Leere und Einsamkeit. Der Tod ihrer Zwillingsschwester hatte eine so große Lücke in ihr Leben gerissen, dass sie durch nichts und niemanden geschlossen, geschweige denn gefüllt werden konnte.
Kati musste an die Tage, Wochen und Monate nach der Beerdigung denken. Es war unerträglich gewesen, an Jules leblosem Zimmer vorbeigehen zu müssen und überall im Haus und auf dem Hof an sie erinnert zu werden. Sie hatte einfach weggehen müssen. Zwar hatte sie immer wieder mit sich gehadert, ob es richtig war, ihrer Heimat und ihrer Familie den Rücken zu kehren. Doch damals war das sicher der richtige Entschluss gewesen. Sie hatte es nicht geschafft, ohne Jule auf dem Heidehof zu leben. Ihrem Vater und vor allem Elli war es sehr schwer gefallen, Kati ziehen zu lassen. Und Kati konnte nur erahnen, wie sehr sie ihre Familie damals verletzt hatte. In ihrem halben Jahr in Südeuropa hatte sie nur selten zum Telefon gegriffen. Sie wollte nur noch raus aus allem und in eine völlig neue Umgebung eintauchen. Während des Praktikums in Barcelona war es ihr immerhin zeitweise gelungen, die schmerzhaften Gedanken an Jule und die traurigen Umstände ihres Todes beiseitezuschieben. Die anderen Angestellten in dem Hotel hatten sich ständig über das Pensum und die vielen Extraschichten beklagt, Kati dagegen empfand die Arbeit als wohltuende Therapie. Sie wollte nicht wie die anderen möglichst viel Zeit am Strand verbringen, sondern so hart arbeiten, dass sie abends erschöpft ins Bett fiel.
Doch als die sechs Monate vorbei waren, fiel sie in ein noch größeres Loch. Sie wusste nicht mehr, wo sie hingehörte. Natürlich hätte sie zurück nach Uhlendorf gehen und im Heidehof arbeiten können. Immer wieder hatten ihr Vater und Dorothee angeboten, eine Einliegerwohnung im Haupthaus für Kati auszubauen. Hinrich hatte ihr sogar schon einen Ausbildungsplatz in einem der größeren Hotels in Bispingen organisiert. Aus Angst entschied sie sich aber nicht nur gegen die Heide, sondern auch gegen das Hotelgewerbe. Diese seltsame innere Leere wäre allgegenwärtig spürbar gewesen.
Katis Knie schmerzten. Sie wollte sich gerade aufrichten, als sie auf dem Sandweg plötzlich ein Rotkehlchen entdeckte, das in ihre Richtung hüpfte. Der Vogel hob und senkte sein Köpfchen und blickte Kati aus schwarzen Knopfaugen aufmerksam an. Bis auf einen halben Meter näherte er sich. Er schien keine Angst zu haben. Doch als Kati sich wegen ihrer schmerzenden Knie abstützte, flog er auf und setzte sich auf Jules Grabstein.
Kati musste versonnen lächeln. Dieser Vogel erinnerte sie an ihre Schwester: große, dunkle Augen, lebhaft, ganz schön neugierig und mit einem eigenen Kopf.
Plötzlich fegte ein Windstoß über das Grab. Das Rotkehlchen breitete die Flügel aus und flog davon. Doch Kati sah ihm nicht hinterher, sondern beobachtete fasziniert, wie die Lilien ihre gelben Pollen über den Grabstein verteilten. In diesem Moment brach die Sonne durch das Blätterdach und verwandelte die Pollen in Goldstaub. Es war ein magischer Augenblick. Denn auch die Blütenblätter des bunten Straußes wurden aufgewirbelt und senkten sich auf das Grab.
Kati erhob sich und betrachtete das sich ihr nun bietende Farbenspiel. Die Randsteine ließen das Grab beinahe wie ein gerahmtes Gemälde erscheinen.
Am liebsten würde ich das malen, dachte Kati gerührt.
Und auf einmal erfüllte sie eine tiefe Zufriedenheit.
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