Der Himmel über Garmisch (German Edition)
die Polizei, seine Behörde, letztlich: er nicht in der Lage gewesen waren, die Täter dingfest zu machen, die Théo in den Rollstuhl geprügelt hatten.
Und dann war da der Verdacht, nein, mehr als ein Verdacht – die klare Aussage des Opfers, das den Täter erkannt hatte. Schwemmer zerbiss einen Fluch. Er kannte Karin Zettel. Oder besser: Er hatte sie gekannt. Wenn sie einen Zweifel an der Aussage ihres Verlobten hätte: Sie hätte ihn geäußert. Er erinnerte sich an einen Fall, bei dem sie sogar Zweifel an ihrer eigenen Aussage zu Protokoll gegeben hatte.
Endlich ließ er den Polo an und rollte über den Schotter des Parkplatzes in Richtung Auenstraße. Er vermied die Bundesstraße, bog in die Dreitorspitzstraße und fuhr langsam durch Partenkirchen in Richtung Bahnhof, dann weiter durch den Tunnel nach Garmisch. Er wollte sich das Haus in der Klarweinstraße anschauen, in der Carlo Unterwexler seinen erstaunlich langen Urlaub verbrachte. Fünfzig Meter vor dem Haus parkte Schwemmer am Straßenrand und stieg aus.
Das Haus war hübsch, auch groß, aber nicht sonderlich imponierend. Eher ein großes Einfamilienhaus als eine Villa. Ein Mercedes stand in der breiten Einfahrt, daneben eine Vespa. Im ersten Stock stand eine Balkontür offen, Menschen waren nicht zu sehen.
Er hatte keinen besonderen Grund, hier zu sein. Es war nur ein Vorwand, ein bisschen Zeit herauszuschinden, bevor er wieder in die Wache und sein fensterloses Behelfsbüro zurückkehrte.
Als er gerade wieder zu seinem Wagen wollte, kam eine junge Frau aus der Haustür, in der Hand einen Motorradhelm und eine Sporttasche. Auf die Entfernung war nicht mehr zu erkennen, als dass sie recht hübsch schien und das braune Haar in einer ziemlich ungebändigten Lockenfrisur trug. Schwemmer schätzte sie auf Mitte zwanzig. Er tippte auf Unterwexlers Tochter. Der Vorname fiel ihm nicht ein. Eine Sekunde zögerte er, dann ging er zügig zum Auto.
Als sie mit der Vespa aus der Einfahrt kam, folgte er ihr. Sie bog in die Storistraße. An der Kreuzung zur St.-Martin-Straße mussten sie hinter einigen Wagen warten. Schwemmer blätterte in der Akte, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Cordula war ihr Name.
Als der Wagen vor ihr nach rechts abgebogen war, bog sie ohne zu blinken nach links, noch bevor der Gegenverkehr sich in Bewegung gesetzt hatte, und Schwemmer wäre schon hier abgehängt gewesen, wenn sie nicht an der Ampel an der Olympiastraße hätte warten müssen. Sie bog ab zur Eissporthalle, stellte die Vespa direkt vor dem Eingang ab und ging hinein.
Schwemmer parkte und folgte ihr gemächlich. Am Eingang zeigte er seinen Dienstausweis und stellte sich an die Bande. Er entdeckte sie zwanzig Meter weiter, wo sie auf der Treppe Dehn- und Aufwärmübungen machte und sich erst dann die Schlittschuhe anzog.
Als sie aufs Eis ging und loslief, hob er die Augenbrauen. Sie bewegte sich mit beeindruckender Eleganz und Körperspannung. Eiskunstlauf war nicht wirklich sein Metier, aber als Dauerkarteninhaber beim SC hatte er über die Jahre manchen Hockeyspieler sehen müssen, der nicht so laufen konnte. Es waren mehr, als ihm lieb war. Langsam ging er zur Bandentür und blieb daneben stehen.
Eine halbe Stunde lief sie, und ihm wurde nicht langweilig, ihr zuzusehen. Zwei Meter neben ihm stand eine elegante alte Dame. Sie trug ein Kostüm, Goldringe, eine Perlenkette und einen sehr strengen Blick. Als die junge Frau einen Drehsprung machte, stieß sie ein Schnauben aus.
»Was war das für ein Sprung?«, fragte Schwemmer.
»Toeloop«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen.
»Und? Nicht gut?«, fragte er.
»Gut, aber Mädchen zu alt.« Sie sprach mit einem harten slawischen Akzent. »Hätt ich missen haben vor finfzehn Jahren. Besser zwanzig. Hat Talent, aber nicht ge-ibt.«
»Kennen Sie sie?«
»Ist hier zwei-, dreimal die Woche. Weiß nicht den Namen.«
»Sie sind Trainerin?«
»War ich Trainerin. In Tschechoslowakei.«
»Richtig professionell?«
Langsam wandte sie den Kopf. Ihre Augen schleuderten vernichtende Blitze auf Schwemmer. »Wie sonst?«
Er murmelte »Entschuldigung« und sah wieder auf das Eis.
Die alte Dame hatte anscheinend genug von seiner Gegenwart und entfernte sich die Bande entlang, ohne den Blick von der Eisfläche zu wenden.
Endlich hatte Cordula Unterwexler genug und kam auf die Tür in der Bande zu.
»Man hat Sie gelobt«, sagte er, als sie begann, die Schlittschuhe aufzuschnüren.
»Wer?«, fragte sie, ohne aufzusehen.
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