Der Himmel über Garmisch (German Edition)
»Der Drachen?«
Schwemmer lachte. »So würde ich sie jetzt nicht bezeichnen …«
»Angeblich hat sie zwei Olympiasieger trainiert«, sagte sie.
»Tja«, sagte Schwemmer. »Dann muss man wohl ein bisschen hart sein.«
»Ein bisschen? Haben Sie mal gesehen, was die mit den Kindern anstellen? Eigentlich gehören die alle wegen Misshandlung angezeigt.«
»Sprechen Sie da aus Erfahrung?«
Sie hatte die Schlittschuhe abgestreift und schlüpfte wieder in ihre Sportschuhe.
»Ja«, sagte sie. »Ich hatte auch so eine Trainerin. Mein Vater wollte nur das Beste für mich. Meine Mutter hat sich das ein paarmal angeguckt, dann hat sie mir verboten, weiterzumachen. Damals hab ich sie dafür gehasst. Heute bin ich froh.«
»Warum?«
»Meine Cousine hat weitergemacht. Die kriegt demnächst in beiden Knien einen künstlichen Meniskus. Mit achtundzwanzig.«
»Oha.«
»Dafür war sie mal Vierte bei den deutschen Meisterschaften.«
»Was soll man sagen? Aber dafür, dass Sie so früh ausgestiegen sind, sieht das ganz gut aus, was Sie da machen. Nicht, dass ich Ahnung hätte …«
Sie stützte sich auf der Bande ab und sah nachdenklich auf die Eisfläche, wo ein gutes Dutzend kleiner Mädchen und drei oder vier Jungs sich tummelten.
»Es ist natürlich immer die Frage … Meine Cousine hat es immerhin versucht. Es nicht versucht zu haben, ist ja nichts, auf das man stolz sein kann. Es ist nicht mal eine Geschichte. Man hat mir gesagt, ich hätte Talent. Aber nur das nützt ja nichts.«
»Ein Bekannter von mir ist Musiker. Der sagt immer, Talent hält einen nur vom Üben ab.«
»Da könnte er recht haben.«
»Kommen Sie von hier?«, fragte Schwemmer.
»Nein. Wir machen Urlaub. Und Sie?«
»Ich bin hier geboren.«
»Und was machen Sie hier in der Eishalle?«
»Normalerweise läuft mein Patenkind hier um die Zeit. Ich war grad in der Nähe und dachte, ich schau sie mir mal an. Aber ausgerechnet heute ist sie nicht da.« Er war ganz zufrieden mit der Ausrede; aber er hatte auch genug Zeit gehabt, sie sich auszudenken. »Gefällt es Ihnen in Garmisch?«, fragte er.
»Ach …« Sie lächelte in Richtung Eisfläche. »Gibt nicht viel daran auszusetzen.«
»So richtig begeistert klingt das nicht.«
»Wir sind schon sechs Wochen hier. Da kann es dann doch schon mal ein bisserl fad werden.«
»Sechs Wochen? Wer kann sich denn sechs Wochen Urlaub leisten?«
»Mein Vater. Behauptet er jedenfalls.«
»Na, zu so einem Vater möchte man Sie beglückwünschen.«
Sie nickte nachdenklich.
»Bleiben Sie denn noch länger?«
»Kann sein. Er betrachtet das wohl mehr so als Kur.«
»Darf ich fragen, wo Sie herkommen? Sie klingen ein bisschen fränkisch.«
»Ja, wir kommen aus Nürnberg.«
»Kenn ich leider kaum.«
»Lebt sich ganz gut da.«
»Studieren Sie noch?«
»Gelegentlich. Immer mal wieder ein bisschen.«
»Und was?«
» BWL und Modedesign. Was man halt so studiert, als Tochter.« Ihre Miene ließ keinen Schluss zu, wie sie das meinte.
»Dann übernehmen Sie mal den Familienbetrieb?«, fragte Schwemmer und hoffte, damit die Offensive nicht zu übertreiben.
Aber sie antwortete entspannt. »Wohl kaum, das werden wohl meine Brüder machen. Bei mir läuft’s eher auf eine Modeboutique hinaus.«
»Mit dem Papst in Wuppertal?«
Jetzt lachte sie herzlich. »Ich kann ihn ja mal fragen. Aber nicht in Wuppertal.«
Sie steckte die Schlittschuhe in ihre Sporttasche und hängte sie sich über die Schulter. »Ich muss unter die Dusche«, sagte sie.
»War mir eine Freude, Sie kennenzulernen.« Er machte einen etwas altmodischen Diener.
Sie reichte ihm die Hand. »Servus.«
»Servus«, sagte auch er und sah ihr nach.
Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, dachte er.
***
Radek schloss die Wohnungstür auf. Hardy stieß ihn in die winzige Diele hinein. Es roch beißend nach Chemikalien. Radek öffnete eine Holztür mit Wellglasfenster. Hardy schubste ihn weiter und folgte ihm in den Wohnraum.
Auf einer abgewetzten Couch lag in einer unnatürlich wirkenden Verrenkung ein dürrer Mann unbestimmbaren Alters und schnarchte. Auf dem niedrigen Tisch standen Heizplatten, Töpfe, Glaskolben und Plastikcontainer.
»Wo ist Reagan?«, fragte Hardy.
»Keine Ahnung, vielleicht auf dem Klo«, sagte Radek und verzog sich aus Hardys Schlagdistanz.
In der Diele klappte eine Tür. Hardy fuhr herum und sah Reagan, der aus der Wohnung stürmte. Er setzte hinterher und erwischte ihn im Etagenflur an der Treppenhaustür. Er
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