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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Sanitätsbrigade Ust-Kamenogorsk, sprang auf, als die Kolzwoskaja in das Zimmer stürmte.
    »Laß mich allein!« fuhr die Ärztin das junge Mädchen an. Ehe es antworten konnte, war es schon aus dem Raum geschoben. Dann schloß die Kolzwoskaja ab und sah sich um. In den langen Holzständern standen Reagenzgläser … Reihe hinter Reihe, beschriftet mit kleinen Schildern, die man daran geklebt hatte. Die Forschungsstelle des staatlichen Hospitals Ust-Kamenogorsk legte Wert auf diese peinliche Genauigkeit. Sie holte jede Woche die Reagenzgläser ab, um im Institut damit zu arbeiten. Denn nirgendwo gibt es eine solche Ansammlung von Erkrankungen wie in den Straflagern … es sind Fundgruben für medizinische Forschungspräparate.
    Der Blick Wanda Kolzwoskajas glitt über die kleinen Schilder an den gläsernen Rippen.
    Tuberkuljoss – Tuberkulose
Shelltucha – Gelbsucht
Gnojnik – Eiterbeule
    Abstriche, konzentrierte Aufschwemmungen, herausgeschnittene Gewebe … eine Galerie des Leides und des Todes.
    Die Kolzwoskaja griff nach einem Reagenzglas, auf dessen Schildchen stand, daß in ihm der Eiter von Furunkulosekranken enthalten war. Dieses Glas, das mit einem dicken Wattestopfen verschlossen war, steckte sie in ihre Rocktasche, schloß die Tür wieder auf und verließ das Labor.
    Die Komsomolzin wartete nicht im Flur. Sie hatte die zwangsweise Pause benutzt und saß auf der Toilette, rauchte eine Zigarette und grübelte darüber nach, was die Kolzwoskaja wohl in der ›Giftküche‹, wie das Labor überall hieß, Geheimnisvolles zu tun hatte.
    In ihrem Zimmer stellte die Ärztin das Reagenzglas auf ihren Tisch und nahm eine Spritze aus dem Schrank. Sie setzte eine dicke Nadel ein, zog ein wenig von dem Eiter der Furunkel in den Glaskörper auf und schob dann die gefüllte Spritze in die Tasche ihres weißen Kittels, den sie vom Haken nahm und anzog.
    »Stephan!« schrie sie in den Gang hinaus. Der alte Sanitäter kam hustend aus einem Zimmer gestürzt, einen blutigen Verband in der Hand.
    »Kapitän?!«
    »Geben Sie dem Mann in Nummer 4 eine Rauschgiftnarkose. Ich komme gleich.«
    »Ich verbinde gerade, Kapitän. Noch fünf Minuten. Der Mann verblutet sonst.«
    »Laß ihn krepieren!« schrie die Kolzwoskaja. »Geh in Zimmer 4 und gib die Narkose!«
    Stephan nickte, warf die blutigen Binden in eine Ecke und rannte zu seinem Medikamentenschrank, riß die Narkosemaske heraus, eine kleine Flasche mit Äther und rannte den Gang entlang zu Zimmer 4. Er stutzte, als er die rote Schrift ›Lebensgefahr‹ sah, aber als er sich umblickte, sah er die Ärztin schon auf sich zukommen. Er riß die Tür auf und rannte in das Zimmer, auf das Bett zu, wo Boris verwundert den Kopf hob und sich aufrichtete.
    »Liegenbleiben!« brüllte Stephan ihn an. »Hinlegen! Und nicht rühren!«
    Er stülpte Boris die Narkosekappe über die Nase und riß den Korken von der Flasche.
    Die Kolzwoskaja betrat das Zimmer. Mit starrem Gesicht ging sie zum Bett, legte ihre rechte Hand auf den Arm Boris' und nickte ihm zu.
    »Keine Angst«, sagte sie mit einer Zärtlichkeit in der Stimme, daß Stephan eine Sekunde vergaß, weiter den Äther zu träufeln. »Es geschieht dir nichts!«
    Und während sie mit der rechten Hand den Arm streichelte, umklammerte sie mit der linken Hand die Spritze in der Rocktasche. Die Spritze mit dem Eiter von Furunkeln.
    »Was soll das?« sagte Boris schwach, schon dahindämmernd. »Was geschieht mit mir?«
    Wanda Kolzwoskaja antwortete nicht. Sie nahm die Spritze aus der Tasche.
    »Geh hinaus, du Mißgeburt«, sagte sie zu Stephan. »Ich brauche dich nicht mehr –«
    Eine Weile saß sie allein am Bett Boris'. Er atmete ruhig in der Narkose. Sein breiter Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg.
    Die Kolzwoskaja zögerte. Sie hielt die Spritze in der Hand und konnte sich nicht überwinden, diesen starken, gesunden Körper mit dem Eiter zu entstellen. Verzweifelt suchte sie in diesen Augenblicken nach anderen Möglichkeiten, Boris trotz kommender Kontrollen in ihrem Lazarett zu lassen.
    Es fiel ihr keine Lösung ein. Eine russische Kontrolle ist eine Abart des Todesurteils. Wer sie überlebt, kann behaupten, neu geboren zu sein. Wanda Kolzwoskaja kannte es … sie hatte in Karaganda erlebt, daß sich der Lagerarzt Dr. Nikolai Popow eine Stunde vor Eintreffen der Kontrolle aus Moskau in der Banja erhängte, weil der Medikamentenbestand nicht mit den geführten Listen übereinstimmte. Und was sind einige fehlende

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