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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sie ja tot!«
    »Na und?« Die Kolzwoskaja lächelte breit. »Hast du dich noch nicht an den Anblick von Toten gewöhnt, Olga? Gestern waren es neunundsechzig. Soll ich die Kleider nachzählen lassen? Geh – und überleg es dir …«
    Verwirrt, wie benommen verließ Olga die Lazarettbaracke.
    Vor dem langgestreckten Bau blieb sie stehen und sah über das Lager hinweg. Auf den Wachttürmen froren die Milizsoldaten und schlugen die Arme gegen den Körper. Eine Kolonne hohlwangiger Sträflinge wälzte dicke Felssteine die Straße zum Lager hinab. Die Bauleitung für Straßenwesen in Ust-Kamenogorsk hatte angeordnet, daß der Zufahrtsweg befestigt werden sollte, damit die Transportwagen, die neue Sträflinge herbeibrachten, im Frühjahr und Herbst nicht mehr im Schlamm steckenblieben.
    Ein mongolischer Soldat, der mit einem kleinen Trupp an Olga vorbeimarschierte, winkte ihr zu.
    »Bis heute abend, Mütterchen!« rief er fröhlich.
    »Kommst du, um die Windeln zu wechseln?« schrie Olga ordinär zurück. Der Mongole lachte grell, trat einigen Sträflingen, die stehenblieben und zu Olga hinüberstarrten, in das Gesäß und brüllte: »Dawai! Dawai!«
    In die kochende Lauge stoßen, dachte sie voll Grauen. Sie sah schon die goldgelben Haare inmitten der brodelnden Wäsche flattern und untergehen in den springenden Kochblasen. Sie hörte den hellen Schrei Erna-Svetlanas und sah ihre großen, blauen Augen weit aufgerissen.
    Zu allem war Olga Puronanskija fähig, aber nicht zu einem Mord mit den eigenen Händen. Sie setzte sich auf eine Holzbank und starrte vor sich hin. Wen kann ich dafür nehmen, dachte sie angestrengt. Wer könnte sie in die Lauge stoßen und hinterher auch den Mund halten, daß es niemand erfährt?!
    Sie saß fast eine halbe Stunde auf der Bank, als wagte sie nicht, ohne einen festen Gedanken wieder in das Kesselhaus zu gehen. Der Wind zerzauste ihre stumpfen Haare, peitschte gegen ihre Gesichtshaut und ihre dicken Beine. Es war ein kalter Wind, der von den Bergen herabheulte. Sie merkte es nicht. Sie saß da und zählte die Namen aller Mädchen und Frauen ab, die bei ihr arbeiteten.
    Es war keine unter ihnen, die so etwas tun würde. Aber alle wären bereit, wenn es heißen würde: Stoßt die Puronanskija in den Kessel. Olga seufzte tief auf.
    Wanda Kolzwoskaja beobachtete sie vom Fenster ihres Zimmers aus. Als sich Olga erhob und wegging, lächelte sie zufrieden.
    Gegen Abend klopfte Olga wieder bei der Ärztin an. Sie sah verstört aus, blaß und wie aufgeweicht.
    »Erna-Svetlana ist verschwunden«, sagte sie stockend.
    Die Kolzwoskaja fuhr herum. »Idiotin!« schrie sie. »Wie kann sie verschwinden? Wo ist sie hin?« Sie fuhr auf Olga zu, packte sie an der Schulter und schüttelte sie hin und her. Bleich ließ es die Puronanskija mit sich geschehen. Sie bewunderte die tierische Kraft, die in dem mittelgroßen Körper der Ärztin steckte. »Sie kann doch nicht einfach weg sein!« schrie Wanda Kolzwoskaja.
    »Doch. Alle Sachen sind weg. Der Schrank ist leer. Sie ist weg aus Ust-Kamenogorsk. Vielleicht zurück nach Alma-Ata? Ich ahne Schwierigkeiten, Genossin Kapitän.«
    »Durch deine Unvorsichtigkeit! Ich werde dich dem Kommandanten melden! Hinaus!« Sie ohrfeigte Olga aus dem Zimmer und sank dann neben der Tür in einen alten Korbsessel, von dem keiner wußte, wie er gerade in Ust-Kamenogorsk auftauchte.
    Wenn eine Kontrolle kommt, muß Boris weg sein, dachte sie fieberhaft. Aber wohin? O Gott, wohin?!
    Plötzlich sah sie die Winzigkeit ihrer Macht … sie reichte von der Lagerbaracke bis zur Lazarettbaracke … eine Strecke von 250 Metern vielleicht. Mehr nicht. Was dahinter und davor lag, daneben und seitlich war für sie ebenso unerreichbar wie den lebenden Gerippen die Freiheit außerhalb des hohen Holzzaunes. Eine Macht von Zimmer zu Zimmer, die ausreichte, Tausende Menschen in den Bergwerken verrecken zu lassen, aber doch zu klein, einen einzelnen Menschen, den man liebte, zu verstecken.
    Die Kolzwoskaja kniff die Augen zusammen. Ein wahnsinniger Gedanke nahm Besitz von ihr und überdeckte alle anderen Überlegungen. Sie erhob sich ruckartig, verließ das Zimmer und ging mit schnellen, weitausgreifenden Schritten den langen Gang der Baracke hinab. Die Sträflinge, die auf dem Flur standen und nicht rechtzeitig zur Seite traten, wurden von ihr mit Fausthieben zur Wand geschleudert.
    Am Ende der Baracke lagen ein kleines Labor und die Medikamentenstelle. Die Laborantin, eine junge Komsomolzin der

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