Der Himmel über Kasakstan
hier!«
Hauptmann Perwuchin zuckte zusammen, als der Mann neben ihm plötzlich herumfuhr und die Arme weit in die Luft warf. Dann erst hörte er die weibliche Stimme, ohne zu erfassen, was sie rief.
»Svetla!« brüllte Boris. Er warf den Stock und die Mütze weit von sich, er stürzte von der Seite Perwuchins weg, strauchelte, humpelte mit seinem dick verbundenen Bein, mit schmerzentstelltem Gesicht, zurück zu den stumpfsinnig Herumstehenden auf dem Appellplatz … er brüllte und griff mit den Händen an seine Brust, als müsse er sich sein Herz in die Brust zurückdrücken. »Svetla –!«
In der Mitte des Platzes trafen sie sich. Wie von einer unsichtbaren Wand getrennt, blieben sie voreinander stehen und sahen sich stumm an.
Unbeweglich standen sie und sahen sich an. Dann, plötzlich, als sei er gefällt worden, sank Boris in die Knie und legte seinen Kopf an den hohen Leib Erna-Svetlanas. Er umfaßte sie und weinte, und unter seiner Stirn regte sich das Kind …
»Wer will noch eine Scheibe Brot?!« schrie ein Soldat über die Totenköpfe hinweg. Die Kolonnen wandten sich um und strebten zur Kommandantur.
Eine Scheibe Brot war wichtiger als jede Erschütterung.
Drei Tage später verließen neunundsechzig ehemalige Häftlinge das Lager Ust-Kamenogorsk. In zwei Eisenbahnwagen wurden sie nach Alma-Ata gebracht, wo sie einige Leute des NKWD in Empfang nahmen und zunächst ins Gefängnis transportierten.
Auch Boris war unter ihnen, und Erna-Svetlana durfte mitfahren. Der Abschied vom Lager, von Jossif Kaledin und Olga Puronanskija, war kurz.
»Du hast es gut«, sagte die dicke Olga. »Du kommst zurück in die Heimat … Aber wir? Wir müssen hier in diesem Drecknest bleiben und weiter die Wäsche von Tausenden Schuften waschen oder glitschiges Brot backen. Wer hätte das alles gedacht?«
»Du brauchst es doch nicht«, sagte Svetlana.
»Wo soll ich denn noch hin? Seit zehn Jahren lebe ich hier, seit zehn Jahren sehe ich die Wachttürme, die Lagermauer, die Baracken. Verdammt, man gewöhnt sich daran, auch wenn man darüber flucht. Meine Heimat ist es geworden, das Lager. Der Teufel soll's holen!«
Es war eine traurige Fahrt, trotzdem sie in die Freiheit ging. Man sah aus den Fenstern der Wagen hinaus auf die vorbeiratternde Landschaft. Felder, Felsen, weite Steppen mit den Herden der Nomaden, Jurten, hingeduckte Dörfer, Ziehbrunnen, eine träge Kamelherde, ein großes Sägewerk … Hunderte Meter lang die Holzstapel, Brett an Brett, Balken an Balken, Stamm an Stamm …
»Dort machen sie neue Holzzäune für neue Lager«, sagte einer bitter. Es war, als ginge ein Frieren durch die Freigelassenen.
»Halt die Schnauze!« brüllte einer. »Wer noch einmal vom Lager spricht, fliegt aus dem Zug!«
Ein See tauchte auf, flog vorbei … ein Wald, dunkel, verfilzt, urhaft. »Da leben sicherlich Bären«, sagte ein anderer.
Erna-Svetlana und Boris sahen sich an. Ein Bär, dachten sie gleichzeitig. Arme Natascha Trimofa … Was wäre heute, wenn es keinen Bären gegeben hätte … Wenn – Es ist das nutzloseste und schicksalhafteste Wort der Menschen …
*
In Alma-Ata erschien Stephan Tschetwergow im Büro des NKWD. Sein Nachrichtendienst hatte blendend funktioniert … schon zwei Stunden nach Eintreffen der neunundsechzig hatte er die Namensliste auf dem Schreibtisch liegen und kreuzte Boris Horn an.
Er rief sofort in Judomskoje an. »Es ist soweit, Ilja!« sagte er. »Boris und Svetlana sind wieder in Alma-Ata. Ist alles in Ordnung?«
»Alles! Die Datscha blitzt. Sie kommt mir fast westlich vor!«
Tschetwergow räusperte sich tadelnd und hängte ein.
Nun erschien er im Büro des NKWD, väterlich jovial, ganz Parteifunktionär, sich seiner Würde bewußt und stolz auf seine Intelligenz, den plötzlichen Umschwung mit Eleganz überlebt zu haben.
»Wo habt ihr mein Brüderchen Boris?« fragte er und bot dem Kommissar eine Zigarette an. Es waren wieder die hellen, süßen chinesischen Zigaretten, die ihm seine tatarische Sekretärin besorgte. Der Kommissar roch an dem Tabak und inhalierte den Duft.
»Welches Brüderchen, Genosse Tschetwergow?«
»Boris Horn.«
»Der Deutsche?!«
Es war eine scharfe Frage. Tschetwergow wurde vorsichtiger. Noch war es nicht klar, wie die neue Moskauer Linie verlief. Daß sie weicher wurde, war bekannt … aber die Abneigung gegen den Westen blieb, und die Abneigung gegen die Deutschen schien sich noch zu verstärken. Obacht, Obacht, Stephan, dachte Tschetwergow … ramm
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