Der Himmel über Kasakstan
Kranke als Arbeitsfähige ausspuckte … Ich war nur ein Fließband der Diktatur –«
»Genossin!« schrie Oberleutnant Kaljus.
»Wollen Sie mich anzeigen? Das besorgt schon der fleißige Perwuchin! Was habe ich zu verlieren? Was?« Sie richtete sich auf. Ihre Bluse war aufgerissen … Kaljus schluckte.
»Sie –«
»Ich? Ich bin Aas!«
»Sie sind wundervoll, Wandaschka …«
Die Kolzwoskaja kniff die Augen zusammen. Sie ging zurück zu dem Medikamentenschrank. Kaljus verschlang sie mit den Augen. Es ist ein Wunder, dachte sie, daß ihm nicht der Speichel aus dem Munde tropft.
»Was wollen Sie noch hier?« sagte sie hart. »Sie haben Ihren Boris. Geben Sie ihm die Freiheit an der Seite seiner kleinen blonden Hure! Sie werden zehn Kinder bekommen, das blonde Schönchen wird fett wie eine ukrainische Bäuerin werden, sie werden wie die Karnickel leben und wie die Karnickel sterben … aber lassen Sie mich allein!«
»Warum können Sie mich nicht lieben, Wandaschka?«
»Weil es mich ekelt, einen hirnlosen Kopf zu küssen!«
Oberleutnant Kaljus verfärbte sich. Er wollte etwas sagen, aber dann fuhr er mit der Hand durch die Luft, sich selbst das Wort abschneidend. Er drehte sich herum und verließ den Raum. Auf dem Flur hörte sie ihn schreien.
»Niemand verläßt mehr die Baracke! Niemand! Verstanden? Es kommen neue Befehle von Oberst Denikinow! Alles ist abzusperren!«
Die Kolzwoskaja setzte sich an das Fenster und sah durch die Gardine hinaus auf den großen Appellplatz. Hunderte Häftlinge standen vor der Kommandantur herum. Sie redeten, die mongolischen Milizsoldaten verteilten Zigaretten unter ihnen, Oberleutnant Kaljus sprach mit einigen … er lachte und klopfte ihnen freundlich auf die mageren Schultern, nicht zu fest, denn sie fielen um, wenn man sie antippte, so verhungert waren sie. Von der Küche herüber kamen einige Häftlinge. Sie trugen in großen Kübeln Brotstücke und Wurstscheiben.
»Eßt, Genossen!« rief Kaljus den staunenden Gefangenen zu. »Ihr habt noch einen weiten Weg vor euch. Die Freiheit ist strapaziös!« Er lachte, denn es sollte ein Witz sein. Aber niemand antwortete ihm. Mit stumpfen Gesichtern nahmen sie ihr Brot und eine Scheibe Wurst und kauten sie langsam, als genössen sie eine ungeheure Delikatesse.
So ändert sich das Leben, dachte die Kolzwoskaja. Der Tod eines einzigen Mannes verwandelt das Gesicht einer Nation! Die Getretenen werden zu Tretern, und die Herrschenden kriechen im Sand und machen aus Angst unter sich wie junge Hunde.
Welch eine Feigheit! Welch eine Widerlichkeit!
Sie wandte sich vom Fenster ab. Aber sie kam nicht dazu, sich ganz abzuwenden. Über den Platz kam Hauptmann Perwuchin. An seiner Seite ging ein großer, schwarzlockiger Mann, etwas hinkend und sich auf einen neuen Stock stützend. Er trug einen blauen, gezwirnten Baumwollanzug, wie ihn die Chinesen zu Millionen tragen. Es war ein neuer Anzug … man sah noch die Falten und Kniffe, so, wie er zusammengelegt und in Stapeln transportiert worden war. In der anderen Hand trug er eine Schirmmütze.
»Boris«, flüsterte die Kolzwoskaja. Sie krallte die Finger in die verblichene Gardine und drückte das Gesicht in den nach Schmutz und Zigarettenrauch riechenden Stoff. »Boris … warum habe ich dich nicht getötet … dich und mich …?«
*
Zu dem Sammelplatz vor der Kommandantur rannten Olga Puronanskija und Erna-Svetlana. Jossif Kaledin hatte die Nachricht zur Bäckerei gebracht, daß tatsächlich ein Boris Horn unter den Auserwählten sei. Ein Posten hatte es ihm gesagt, und außerdem ein Schreiber der Kommandantur. Der mußte es genau wissen, denn die Listen waren schon fertig. Die ganze Nacht hatte man durchgearbeitet.
»Boris«, stammelte Erna-Svetlana bei jedem Schritt vor sich hin. »Boris – Boris – Boris –« Ein Wort, im Gleichklang mit ihren laufenden Füßen, wie ein Motorengeräusch, monoton, antreibend, rhythmisch … »Boris – Boris – Boris –«
Sie bogen um die Ecke der Kommandantur und kamen auf den großen Appellplatz. Vor den Hunderten Gefangenen mit ihren hohlen Augen, den verfallenen Gesichtern, den ausgedörrten Leibern und Gerippen ähnlichen Körpern blieben sie stehen. Man starrte sie an, aber sie hatten das Gefühl, daß kein Blick sie aufnahm. Es waren leere Augen, starre Pupillen, glanzlose, gelbe Augäpfel, wie bei alten, verstaubten und vergilbten Wachspuppen.
»Boris!« schrie Erna-Svetlana grell über den großen Platz. »Boris – bist du
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