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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Mutter. Ein Blick, der alles aufnahm, was an Grauen aufzunehmen war. Nicht vergessen … das war der Gedanke, der in dem elfjährigen Mädchen emporstieg. Nein, Mamuschka … das werde ich nie, nie vergessen. Was ich gesehen habe, was ich gehört habe, kann mir niemand aus dem Gehirn reißen. Niemand!
    Sie ging in das aufgebrochene Haus zurück, klaubte aus den herausgerissenen, geplünderten und herumgeworfenen Sachen einige Kleidungsstücke zusammen, packte sie in einen Koffer und zog den dicken Mantel mit dem Pelzkragen an.
    An der Leiche des kleinen, erfrorenen Piotr vorbei ging sie über die Straße Neuenaues in Richtung Kraftfeld. Das Dorf war ausgestorben … die Männer lagen erschlagen, erschossen in ihren Stuben oder im Schnee vor den Häusern, die Frauen hockten verstört, geschändet in irgendeiner Ecke des Hauses oder lagen ohnmächtig irgendwo auf dem Boden. Das Vieh brüllte in den Ställen – die Sowjets hatten einfach in die Ställe geschossen und das verwundete Vieh sich selbst überlassen. Wahnsinnig vor Schmerzen schrie es und füllte die kalte Luft mit seinem Brüllen aus.
    Erna-Svetlana ging schnell weiter. Vielleicht treffe ich Boris, dachte sie. Wenn er sich versteckt hat, kann er noch leben. Was soll ich denn tun? Wo soll ich denn hin auf dieser Welt?
    Sie kam an der kleinen Kirche auf dem Hügel vorbei. Als sie sie betreten wollte, um ein kurzes Gebet für die Mutter und den kleinen Piotr zu sprechen, prallte sie zurück.
    Der Pastor hing an der Kirchentür. Die sowjetischen Soldaten hatten ihn mit ausgebreiteten Armen und Beinen festgenagelt. Sein Gesicht war verzerrt … er mußte es bei vollem Bewußtsein erlebt haben.
    Spät in der Nacht kam sie in Kraftfeld an. Sie sah es schon von weitem … es brannte. Der Feuerschein erhellte die Nacht und ließ den Schnee auf der Dorfstraße schmelzen. Ein paar alte Männer und Frauen räumten die unversehrt gebliebenen Sachen aus den Häusern.
    »Wo wohnt Boris Horn?« rief Erna-Svetlana. Man zuckte die Schultern.
    »Da ist keiner mehr. – Wo kommst du denn her?«
    »Aus Neuenaue.«
    »Und wie sieht es da aus?«
    »Wie hier. Meine Mutter und mein Brüderchen –« Plötzlich weinte sie. Der Schmerz überkam sie erst jetzt … er stürzte über sie her und warf sie nieder. Man trug sie in eine Scheune und legte sie ins Stroh.
    Sie war allein auf der großen, aus den Fugen geratenen Welt.
    Es kümmerte sich niemand um sie, denn wer selbst nur das nackte Leben rettete, hatte genug damit zu tun, es zu behalten.
    *
    Vor Boris Horn war nichts mehr bekanntgeworden.
    Den alten Horn fand man mit eingeschlagenem Kopf auf dem Boden seiner Scheune … die beiden Schwestern Boris' hatten sich auf dem Dach des Hauses aufgehängt. Zwei Tage lang waren sie von den durchziehenden Russen mißbraucht worden … Tag und Nacht, ohne Pause. So war die ganze Familie im Tode vereint … nur von Boris, dem jetzt 13jährigen Jungen, fehlte jede Spur.
    »Vielleicht haben die Sowjets ihn mitgeschleppt«, sagten die überlebenden Bauern. »Wer weiß es?! Es ist besser, er ist tot, als das zu erleben, was ihm bevorstehen würde. Als Sohn eines Nazis, als Hitlerjunge …«
    Vierzehn Tage blieb Erna-Svetlana in Kraftfeld. Sie erlebte, wie die Polen wieder Besitz von dem Dorf ergriffen, wie die Deutschen als Knechte auf ihren eigenen Höfen hausten. Dann kamen Kommissare ins Dorf, schrieben Namen auf und stellten Listen zusammen.
    Es wiederholte sich alles, was schon 1939 in Nowy Wjassna geschehen war. Die Methoden waren die gleichen geblieben, nur die Namen der Ausführenden waren andere.
    Mitte Februar ging der neue Treck von Kraftfeld ab.
    Durch Schnee und Eis, durch Beschimpfungen und Steinwürfe, durch Hunger und Erfrierungen zu Fuß bis Warschau. Schneestürme wehten die schwankenden Menschen zu, Hunger warf sie in die Straßengräben und Schneeverwehungen. Wer schwach war, starb am Straßenrand oder wurde von den begleitenden Milizsoldaten erschossen. Erst in Warschau wurden sie verladen, wieder in stinkende Viehwagen … ein armseliger Haufen ausgelaugter Menschen, den man in die Waggons stopfte, denen man die Türen vor den Nasen zuschob und sie von außen plombierte.
    Erna-Svetlana überlebte alles. Sie wurde als eines der wenigen noch vorhandenen Kinder mit dem Verpflegungswagen der Miliz gefahren … ab Warschau hockte sie in einem der Viehwaggons und wurde von den vierzig Menschen mit durchgezogen. Sie bekam hartes Brot, heißes Wasser zum Trinken und ab und zu eine

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