Der Himmel über Kasakstan
Kopf senkte, um zu beten, glitt die Sonne über sein schwarzes Haar und ließ es glänzen, als sei es aus Wachs geformt.
Er ist schön, dachte Erna-Svetlana. Und er ist groß und stark. Ob er mich einmal auf seinem Pferd reiten läßt? Wir haben zwar auch Pferde in Neuenaue, aber seins ist schöner, größer, besser.
Nach dem Gottesdienst wartete sie draußen vor der Kirche neben dem Pferd, bis Boris herauskam.
»Da bist du ja wieder«, sagte er. »Du bist aus Neuenaue?«
»Ja.«
»Ich heiße Boris.«
»Ich Erna-Svetlana.«
»Und wie rufen dich deine Eltern?«
»Püppchen –«
»Das ist blöd«, stellte Boris fest. »Ich werde dich Svetla nennen.«
»Und ich dich Bor.«
Er lächelte und reichte ihr die Hand hin. »Komm uns mal besuchen, Svetla. Ich habe hinter dem Haus einen großen Spielplatz mit einer Schaukel, einer Wippe …«
»Gern, Bor.« Svetlana strich sich über die blonden, langen Haare. Sie waren wie Seide, fein und leicht. Der leiseste Windzug ließ sie aufflattern. Dann sahen sie aus wie eine goldene Wolke, die über die Sonne zieht.
»Du hast schönes blondes Haar«, sagte Boris und legte seine derbe Jungenhand auf Svetlanas Kopf. »Meine Mutter hatte auch solches Haar.«
»Hat sie es nicht mehr?«
Boris sah hinauf zu der Kirchturmspitze. »Sie starb auf dem Transport im Viehwagen. Vater und ich haben sie ausgeladen und in den Schnee gelegt.«
»Das ist traurig, Bor.« Sie tastete nach seiner Hand und drückte sie schüchtern. »Ich habe meinen Mischa verloren.«
»Jeder hat etwas verloren«, sagte Boris härter, als sonst ein neunjähriger Junge zu sprechen pflegt. »Aber jetzt geht es uns gut. Hitler führt uns.«
Svetlana nickte. »Du hast ein schönes Pferd.«
»Willst du einmal reiten?«
»Ja!« rief sie glücklich.
Er hob sie in den Sattel und nahm die Zügel. Er schnalzte mit der Zunge und lief neben dem trabenden Pferd her, den Kirchenhügel hinunter, über die Weiden, nach Neuenaue zu. Erna-Svetlana jauchzte … die langen goldenen Haare flatterten hinter ihr her wie eine wundersame Fahne. Ab und zu schielte Boris verstohlen zu ihr hinauf. Er freute sich mit ihr, und er bewunderte mit seinem neunjährigen Herzen das schöne Mädchen, das wie er so viel Leid gesehen hatte.
Atemlos hielt er endlich an und ließ sich in das hohe Gras fallen. »Ich kann nicht mehr, Svetla«, keuchte er. »Ich bin kein Wolf, der stundenlang laufen kann.«
Sie sprang vom Pferd und setzte sich neben ihn. »Aber du bist so stark wie ein Wolf.«
»Vielleicht –« Er ließ ihr Haar durch seine vor Ermattung zitternden Finger gleiten. Sein schönes weißes Hemd zeigte häßliche Schweißflecken. »Kommst du mal zu uns, Svetla?«
»Ja, Bor. Bist du nächsten Sonntag wieder in der Kirche?«
»Ja, Svetla.«
»Dann sehen wir uns bestimmt.«
»Bestimmt.«
Sie gaben sich die Hand. Dann ging Svetlana zurück nach Neuenaue. Erst, als er ihre blonden Haare nicht mehr im Wind wehen sah, schwang er sich auf sein Pferd und ritt zurück, an der Kirche vorbei, nach Kraftfeld.
Vier Tage später wurde Rudolf Bergner eingezogen. Er wurde Soldat. Der Krieg mit Rußland stand bevor. Er kam nach Posen, in ein Ersatzbataillon. Zur achtwöchigen Ausbildung.
Acht Wochen sind lang genug, um das Sterben vorzubereiten und es heuchlerisch ›Heldentod‹ zu nennen.
Erna-Svetlana sah Boris Horn nicht wieder. Sie mußte im Haus helfen. Vera Petrowna war schwanger, zwei polnische Knechte lungerten herum und mußten von ihr beaufsichtigt werden. Für Svetlana blieb alles, was im Haus zu tun war … fegen, aufwischen, spülen, Wäsche waschen, putzen, staubwischen.
Nach acht Wochen kam Rudolf Bergner in Urlaub. Für zehn Tage. Aber schon am 4. Tag erhielt er den Befehl, sofort zurückzukommen.
»Jetzt geht es los«, sagte er am Abend vor der Abreise. »Alle sprechen davon.«
»Wir greifen Mütterchen Rußland an?« fragte Vera Petrowna.
»Hitler will den Bolschewismus vernichten.«
»Kann er auch den Baikalsee verlegen?«
»Nein«, sagte Bergner verblüfft.
»Wie kann er dann den Bolschewismus vernichten? Er weiß ja nicht, was dort hinten ist.« Sie streckte den Arm weit aus … es war eine Gebärde, die den russischen Raum umgriff … vom Eismeer bis zur Mongolei. »Er war ja nie da … Mütterchen Rußland ist wie ein Schwamm … und er ist nur ein Tropfen.«
»Wenn wir Moskau haben, ist der Bolschewismus tot!« sagte Bergner.
»Gott sei mit dir«, sagte Vera Petrowna. Dann legte sie die Hände auf den
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