Der Himmel über Kasakstan
…«
»Wir alle haben ihn gehaßt. Wir alle! Nur, weil er in Moskau alle Welt kannte, weil er der Freund Stalins war, haben wir das Maul gehalten und uns geduckt. Du solltest Boris dankbar sein!« Er ließ sie los und begann, sie weiter zu verbinden. Er nickte Boris zu und winkte mit dem Kopf zur Tür. »Geh und hol Wasser. Und wenn sie das Wasser aus deiner Hand nicht trinkt, ersäufen wir die Katze im Eimer!«
Sie taten es nicht. Svetlana trank den Tonbecher Wasser, den ihr Boris hinhielt. Aber sie sah ihn nicht dabei an. Sie blickte über ihn hinweg oder durch ihn hindurch … Boris wußte es nicht. Er zitterte vor Erregung und verließ auch schnell wieder die Hütte, als Svetlana den Becher ausgetrunken hatte.
In den folgenden Tagen sprachen sie kaum miteinander. Boborykin zog seinen Steg meterweise ein … rückwärts kriechend löste er die Verankerung des Knüppelweges, die sein Geheimnis war.
Von der Morgendämmerung bis zum letzten glutgoldenen Strahl der Sonne waren Boris und er draußen im Sumpf. Nur des mittags rasteten sie im Schilfwald … dann kam Svetlana mit einem Kessel voll Kasch oder Kapusta oder Hirsebrei und Brot und stand neben ihnen, bis sie gegessen hatten … stumm, mit unbewegtem Gesicht, bleich.
»Wenn das Haar nicht wäre, könnte sie aus Nebel sein«, sagte Boborykin einmal, als Svetlana wieder im Dickicht untertauchte, ohne ein Wort gesprochen zu haben.
Als der neue Knüppeldamm verlegt war, gingen ihn alle drei ab, um ihn genau kennenzulernen. Sie brachten für uneingeweihte Augen unmerkliche Markierungen an … einen trockenen Zweig, Schilfinseln, Moosflechten, Punkte, an denen der unterirdische Weg einen Knick machte oder die Richtung wesentlich änderte.
Es war ein Labyrinth, das sie anlegten, jedem zum Verderben werdend, der die Schilfburg Boborykins ohne Kenntnis des Sumpfes angreifen wollte.
In diesen zwei Wochen sprach Erna-Svetlana wieder mit Boris. Doch es war ein anderes Sprechen als vorher … ein Riß war zwischen ihnen. Es war, als sähen sie sich durch eine Glasscheibe, die zersprungen und blind war. Der Klang ihrer Stimmen traf sich, aber der Blick ihrer Augen verschwamm in der Trübnis, die zwischen ihnen lag.
»Es wird schon wieder«, sagte Andreij Boborykin und klopfte Boris auf die Schulter. »Eher wird ein Wolf ein Pflanzenfresser, als daß eine Frau so schnell nachgibt.«
»Vielleicht hat sie recht«, sagte Boris betrübt.
»Nie!« Boborykin schlug ihn auf den Rücken. »Was ein richtiger Kerl ist, gibt das nie zu!«
*
Boris schreckte in der Nacht hoch und setzte sich.
Es war ihm, als habe er einen Ruf gehört. Er warf die dünne Decke von sich, erhob sich von dem Graslager und ging zum Fenster. Leise öffnete er es und lauschte hinaus in die sternenklare Nacht.
Die Frösche quakten, im Schilf schrie grell und schrill ein Biber auf. Irgendwo klatschte es im Wasser. Boris wollte das Fenster schon wieder schließen, als es wieder zu ihm hinwehte. Weit fort, wie das Singen des Windes in den Birkenzweigen oder helles Schwirren der Grillen.
»Booooboooorykiiiin –«
Ein Ruf! Boris steckte den Kopf weit aus dem Fenster hinaus. Hinter sich hörte er das Rascheln von Andreijs Lager. Dann knurrte es wie ein verschlafener Bär.
»Was ist, Brüderchen?«
»Am Rande des Sumpfes ruft eine Frauenstimme.«
»Dummheit!« Boborykin klopfte sein Lager fester. »In der Nacht! Du hast geträumt, Freundchen.«
»Da ist es wieder! Hörst du es?! Dein Name!«
Boborykin saß auf seinem Gras und kratzte sich den Kopf.
»Es klang wirklich so«, sagte er hilflos. »Du steckst mich an mit deinen Weiberträumen.«
Boris wischte sich erregt über die Augen und rieb sich den letzten Schlaf von den Lidern.
»Wenn es Natascha Trimofa ist –«, meinte er stockend.
»Natascha! Du Idiot!« Boborykin lachte wieder. »Die liegt jetzt in Bett siebenundsiebzig in Baracke III, Block 4 von Karaganda! Es kann auch Baracke IV sein … weiß ich es? Aus Karaganda ist noch nie eine Stimme weggeflogen … erst recht kein Mensch!«
»Sie kann geflüchtet sein.«
»Aus Karaganda flüchtet man nicht … man stirbt dort nur.«
Boborykin stand auf und begab sich zu Boris an das offene Fenster. Schulter an Schulter lauschten sie hinaus in die Nacht.
Sie warteten einige Minuten, fast hielten sie den Atem an.
»Nichts«, sagte Boborykin fast triumphierend. »Du hast den Koller, Brüderchen.«
Boris wollte das Fenster wieder schließen, als es wieder über den Sumpf wehte … weit
Weitere Kostenlose Bücher