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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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streckte ihm die Hand hin. Unaussprechliche Dankbarkeit stieg in ihren müden Augen empor.
    »Wir werden dich nie vergessen, Andreij. Du bist der beste Mensch, den ich je kennenlernte.«
    Boborykin wurde unsicher. Er strich sich über sein behaartes Gesicht und schaute zur Seite.
    »Blödsinn!« sagte er grob. »Ich habe mit diesen Händen hier –« er streckte sie weit vor und Svetlana unter die Augen – »mit diesen Händen über hundert Deutsche umgebracht. Ich habe sie erwürgt, erstochen, aufgehängt, erschossen, zerstückelt.«
    »Das kannst du gar nicht, Andreij.« Svetlana lächelte ihn an und ergriff seine Hände. In einer Aufwallung kindlicher Demut beugte sie sich darüber und küßte sie. Boborykin riß sie zurück, als habe man sie in Feuer getaucht.
    »Nein!« brüllte er. »Keinen Dank!« Über sein Gesicht wetterleuchtete es. Er wich vor Natascha Trimofa zurück, die auf ihn zutrat. »Ich gehe jetzt! Seht zu, wie ihr allein weiterkommt! Ich schäme mich als Sowjetbürger, euch Reaktionären geholfen zu haben!«
    »Du schämst dich, weil du eine Seele hast, Andreij.« Natascha Trimofa strich ihm über das zuckende Gesicht. »Du bist etwas wie die Hoffnung, Andreij. Du kannst den Glauben geben, daß der russische Mensch nicht im Oktober 1917 gestorben ist. Vielleicht wird Rußland einmal auferstehen aus den Sümpfen, in die du zurückgehst.«
    Boborykin wandte sich schroff ab. »Laßt mich in Ruhe!« sagte er heiser vor Rührung. »Laßt mich doch in Ruhe!«
    »Gott wird dir danken, Andreij.«
    Boborykin fuhr herum. »Nenn diesen Namen nicht, Natascha!«
    »Du trägst ihn in dir.«
    »Gott kann Mütterchen Rußland nicht so zertreten lassen! Ich will davon nichts hören!«
    Er warf sich herum, rannte zu seinem Pferd und sprang auf.
    »Lebt wohl!« schrie er noch einmal. »Ich – ich –« Er beugte sich tief über den Hals seines Pferdes und brüllte ihm in die Ohren. »Lauf, du Hundetier! Lauf doch! Lauf!«
    Wie ein riesiges Gespenst raste er durch die Felsen davon. Er sah sich nicht um, er winkte nicht, er hätte am liebsten die Hände gegen die Ohren gepreßt, wenn er sie nicht zum Lenken des Pferdes gebraucht hätte.
    Weinend jagte er zurück nach Norden. Als er außer Sicht- und Rufweite war, ließ er die Zügel los, das Pferd fiel in einen leichten Trab und sah sich ab und zu um.
    »Vermißt du sie, moj sjerdzenja (mein Herzchen)?« sagte Andreij Boborykin weinend.
    Dann schluchzte er auf; schließlich heulte er laut wie ein verwundeter Wolf und hing auf seinem Pferd wie eine knochenlose Fleischmasse.
    *
    In der Nacht noch wurden Boris, Svetlana und Natascha Trimofa gezwungen, ihren Weg zu ändern und seitlich des Gebirges in der Steppe weiterzuziehen. Ein Gebirgsbauer, der in der Nacht vom Fallenstellen die Schlucht hinunterkam und auf die drei stieß, berichtete von einem starken Spähtrupp der Roten Armee, der gerade vor ihnen, nur sechs Werst weit entfernt, die ganzen Wege, und das waren nur zwei, besetzt hielt.
    »Sie machen ein Manöver«, sagte der Bauer. »Die Berge wimmeln von ihnen. Überall findet man sie. In den verlassensten Schluchten. Man sucht Wurzeln – bumm, schießt es im Rücken. Aha, denkst du … da sind sie. Suchen wir die Tschu-man-Schlucht ab … Und siehe da! Wumm, macht es auch da. Das sind sogar Kanonen! Es ist schlimm heute, Genossen. Bis zum Winter geht das so, sie bilden neue Truppen aus. Für die Weltrevolution, sagte mir gestern ein Leutnant. Amerika wird frech, sagt er.« Der Bauer schüttelte den Kopf. »Was ist Amerika? Ich hab's nie gehört. Nur Deutschland kenne ich. Mein Steppan liegt dort. Bei Stettin. Er hat ein ganz weißes Kreuz auf seinem Grab. Denkt euch, Genossen, ein ganz weißes Kreuz. Es muß ein schönes Land sein, dieses Deutschland.«
    So zogen sie weiter nach Osten, dem Rande des Gebirges entlang. Ab und zu hörten sie das Schießen der Manövertruppen … eine Staffel Aufklärungsflugzeuge brauste über sie hinweg. Da warfen sie sich in das Steppengras und sahen von oben aus wie verstreute Felssteine.
    Natascha Trimofa sagte nichts von dem, was sie dachte. Bis zum Winter dauerten die Manöver, bis dahin war kein Durchkommen nach Tibet. Im Winter aber war es Selbstmord, weiterzuziehen über das Gebirge in ein Land, wo der Eiswind die Felsen leerfegt, wo Lawinen die Straßen bis zur Hälfte der Berghöhen auffüllen und wo der Mensch, schutzlos in Kälte und Sturm schwankend, in die Schluchten geweht wird, als sei er ein übriggebliebenes

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