Der Himmel über Kasakstan
rotglühend, hielt Boborykin seinen Gaul an.
»Schluß«, sagte er laut. »Mein Hintern ist wund. Wenn ich einen Eimer Wasser hätte, würde ich mich 'reinsetzen.«
Er kletterte breitbeinig vom Pferd und reckte die mächtigen Glieder. Svetlana wunderte sich, daß die Gelenke nicht krachten wie Kanonenschüsse.
»Es wäre schön, wenn wir einen Tee kochen könnten«, sagte sie. »Aber hier gibt es kein Holz für ein Feuer.«
Boborykin grinste. Er griff in seine Satteltasche und holte ein Päckchen hervor. »Andreij ist doch kein Idiot«, sagte er breit. »Ich habe aus Alma-Ata Spiritustabletten mitgebracht. Koch uns ein Teechen, Svetlanja. Wir wollen auch in der Wüste leben wie ein knjasj (Fürst).«
Nach dem Essen lagen Boris und Svetlana unter einer Decke eng zusammengerollt. Sie schliefen sofort ein. Svetlanas Arm lag um den Nacken Boris'. Es war eine rührende Geste des Anschmiegens und Schutzsuchens, des Zusammengehören und Vertrauens. Natascha Trimofa sah auf sie hinab. Sie saß noch neben Boborykin und rauchte eine der höllischen Zigaretten, die Andreij aus Machorka und unbekannten Abfällen zusammendrehte und schmatzend verpaffte.
»Mit diesem Kraut wirst du Lungenkrebs bekommen«, sagte Natascha und hustete. »Das zerfrißt ja die Bronchien.«
»Immer noch ein schönerer Tod als an der Eismeerstraße verrecken.« Boborykin lehnte sich zurück. Die Kälte kroch an ihn heran. Er legte die Pferdedecke um seine Schultern. »Sieh dir die zwei an, Natascha Trimofa.«
»Sie lieben sich. Ist es nicht ein Wunder, daß es auf dieser Welt von Haß und Elend, Verfolgung und Grausamkeit noch Liebe gibt?«
Boborykin winkte ab. »Auch Wanzen und Flöhe paaren sich.«
»Ist dir eigentlich nichts heilig?« fragte die Trimofa. »Was bist du nur für ein Mensch, Andreij.«
Boborykin zog die Schultern zusammen. »Manchmal weiß ich gar nicht, ob ich überhaupt ein Mensch bin.«
»Hast du nie geliebt?«
»Doch. Aber die Deutschen haben sie umgebracht.«
»Das ist bald 10 Jahre her, Andreij.«
Boborykin nickte. »Und seitdem weiß ich nicht mehr, ob ich noch ein Mensch bin.«
»Und warum kommst du jetzt mit uns? Wenn du kein Gefühl mehr hast, dürftest du gar nicht hier sitzen. Warum hilfst du uns überhaupt?«
»Warum?« Boborykin sah in den dunklen Nachthimmel. Die Sterne brachen durch die ziehenden Wolken. Es würde eine kalte Nacht werden, eine jener merkwürdigen Wüstennächte, die man nicht versteht und über die man sich wundert, daß man auf einem Stück Erde frieren kann, auf dem man vor ein paar Stunden noch in glühender Sonne wegschmolz.
»Warum?« wiederholte er. »Ich habe mich an euch gewöhnt, das ist alles. Und jetzt laß mich in Ruhe.«
Er drehte sich weg, ließ sich mit seiner Decke auf den abgeschnallten Sattel fallen, rollte sich in die Decke und streckte sich dann. Wenig später schlief auch er.
Natascha Trimofa erhob sich. Sie ging zu ihrem Pferd, hob den Sattel ab und holte aus den großen Seitentaschen einen flachen Blechkasten heraus. Sie öffnete ihn und überflog den Inhalt.
Ein paar Mullbinden, Brandbinden, blutstillende Watte, drei Injektionsspritzen, 10 Ampullen Narkotika, 10 Ampullen Herz- und Kreislaufmittel, 10 Ampullen Penicillin, 10 Röllchen Fiebertabletten. Eine Schere, einige Rollen Leukoplast. Und – in ein Öltuch gewickelt – ein notdürftiges chirurgisches Besteck: Zwei Scheren und Pinzetten, ein Weichteil- und Resektionsmesser, einige Gefäßklemmen, zwei stumpfe Muskelhaken, zwei runde und zwei scharfe Haken, eine große Kornzange, ein scharfer Löffel, drei Nadeln, eine Fadenschere, ein langes Amputationsmesser, eine chirurgische Säge und ein Resektionshaken. Ferner zwei messerscharfe Meißel, ein Schlegel und eine Knochenhaltezange. Dazu einige Rollen Catgut und Seidenzwirn. Tupfer in sterilen Packungen und drei Kompressen.
Mit ihnen fange ich drüben in der Freiheit ein neues Leben an, dachte Natascha Trimofa. Mit ein paar Zangen und Wundhaken und einem Amputationsmesser. Mit einer Handvoll vernickelten Stahls.
Sie streichelte über die Instrumente und legte sie dann zurück in die große Satteltasche.
Wir müssen es schaffen, dachte sie, als sie sich neben Boborykin in ihre Decke wickelte. Ich habe noch vieles vor in meinem Leben.
Die Jahre in Judomskoje will ich vergessen und erst beginnen mit dem Leben.
*
Sie ritten 3 Wochen.
In Undutowa und Judomskoje ging unterdessen das Leben weiter. Tschetwergow saß in Alma-Ata in seinem Parteihaus und
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