Der Himmel über Kasakstan
geschlossen, nur ihre Finger waren ineinander verkrampft und zitterten leise, als der ekelerregende Geruch auch zu ihr kam.
Svetlana stand neben Natascha Trimofa und rang mit einer aufsteigenden Übelkeit. Als die Trimofa sie einmal ansah, lächelte sie krampfhaft.
»Nicht umfallen, Svetla«, sagte die Trimofa leise.
»Es wird gehen. Ich beiße die Zähne zusammen.«
Natascha nahm zwei Wundhaken und klappte den Schnitt weit zurück. Dann ging sie mit dem Skalpell in die Tiefe, umschnitt den Karbunkel und stieß Boris an, die Schale dichter an den Nacken zu halten. Zwischen Eiter und Blut quoll faulendes Fleisch aus dem Nacken heraus und floß in die tönerne Schale.
Zwanzig Minuten dauerte die Ausräumung des Karbunkels. Erst als Natascha den Verband angelegt hatte und der Frau auf die Schulter klopfte, erhob sich der Greis vom Eingang.
»Sie wird weiterleben, meine Tochter?« fragte er, als spräche er etwas völlig Gleichgültiges.
»Ja, Noyon.« Natascha tauchte ihre Hände wieder in heißes Wasser und ließ sie darin, als wolle sie die Haut abbrühen. »Ich gebe ihr noch Penicillin. In zwei Wochen wird sie nur zwei Narben haben … weiter nichts.«
»Narben sind Ehrenzeichen des Schmerzes.« Der Greis verneigte sich tief. »Ich bin euer ewiger Schuldner.«
Vier Wochen später trug die Frau des Noyon nur noch ein Pflaster im Nacken und umarmte Natascha und Svetlana, als sie Abschied nahmen von den Jurten der Sojoten. Die Nomaden zogen weiter nach Westen, dorthin, woher die Flüchtenden gekommen waren.
Der Fürst gab ihnen Felle mit, Lebensmittel, Wasserschläuche und Munition für die Gewehre. Dann hob er die Hände, als wolle er die drei segnen. Er sprach kein Wort, er hob nur die Hände hoch über sie, und seine Li ppen b ewegten sich im stummen Gebet.
Als sie abritten, stand er an seiner Jurte und sah ihnen nach, bis sie in den Felsen verschwanden.
Fünf Wochen später überraschte sie der Winter.
Während sie in einer Höhle schliefen, schneite es. Die Wege und Schluchten, die Bäume und Felsen vereisten, als der erste Wintersturm durch die Berge heulte.
Boris und Svetlana starrten hinaus in die wirbelnden weißen Flocken und das Heulen des Windes, der von den Höhen hinab in die Schluchten stieß. Natascha Trimofa war unterwegs, um Holz zu suchen.
Das erste Heulen von Wölfen geisterte schaurig durch die Felsen. Die Kälte wehte mit jedem Windstoß in die Höhle. Svetlana kroch nahe an Boris heran und legte ihren Arm um seinen Nacken.
»Nun ist es vorbei«, sagte sie leise. Es klang nicht traurig oder entsetzt, sondern demütig.
Boris biß sich auf die Lippen. Er hätte schreien können, aber selbst der Schrei erfror in seiner Kehle.
»Es wird nicht ewig schneien und frieren«, sagte er heiser.
Es war eine lahme, eine dumme Entgegnung. Vor ihnen lagen noch die Mongolei, Tibet und der Himalaya.
Tausende von Werst.
Natascha kam in die Höhle zurück. Sie war mit gefrorenem Schnee überkrustet. Ihr schmales Gesicht war gerötet und geschwollen vor Frost. Unter dem Arm preßte sie ein schmales Bündel Holz an den Körper … armselige Stückchen, Rinden, Äste, Reisig, Stämmchen von verdorrten Büschen.
»Das ist alles«, sagte sie und warf das Bündel auf den Felsboden. »Drei Tage Wärme …«
»Und dann?« fragte Svetlana.
»Dann?« Sie wischte sich die vereisten Haare aus dem Gesicht. »Wir sollten nie fragen: ›Und dann?‹! Wenn der Mensch seine Zukunft wüßte, begänne er gar nicht erst zu leben …«
Sie setzte sich an die hintere Wand der Höhle und lehnte sich gegen den feuchten, kalten Stein. Boris schichtete das Holz auf; er nahm nur einige dünne Reisigbündel und einige stärkere Stämmchen, die er so zueinander legte, daß sie nicht auf einmal aufflammten, sondern nacheinander oder in Gruppen verbrannten. So hielt das Holz länger.
Erna-Svetlana strich ein Zündholz an und hielt es gegen das Reisig. Es qualmte etwas, beißender Rauch zog durch die kleine Höhle, das Knistern des feuchten Holzes hallte gegen das kahle Gestein wie ferne Schüsse.
»Es wird nicht reichen, um Tee zu kochen«, sagte Svetlana. Sie kniete vor dem Holzstoß und blies die in der Feuchtigkeit erstickende Flamme höher. Tränen standen ihr in den Augen, sie liefen die eingefallenen Wangen herab und tropften vom Kinn auf ihre Brust. Boris wußte nicht, ob es vom beißenden Qualm kam oder von Schmerz und Trauer, daß sie weinte. Er wandte sich ab und trat an den Eingang der Höhle.
Draußen
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