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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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stürmte es noch immer. Von den Berggraten pfiff der Wind herab und trieb den Schnee wie eine dichte weiße Wolke vor sich her. Man sah keinen Weg mehr, keine Schlucht, keinen Himmel, gerade noch die Felsen nahe vor sich. Alles andere herum war weiß, war drehende, jaulende, heulende Bewegung, war ein Niedergehen des Himmels auf die Erde oder ein Hinaufgehen der Erde in den Himmel … wer wußte es?
    Boris Horn trat zurück in die Höhle. Er sah hinüber zu Natascha Trimofa, die ihre Arme nahe um den Körper gelegt; hatte, als wolle sie ihn umklammern, wie Eisenbänder ein Faß, damit es nicht auseinanderbricht.
    »Wie lange wird es dauern?« fragte er.
    »Einen Tag … eine Woche … einen Monat … Du bist lange genug in Rußland, um zu wissen, daß man die Natur nicht fragen kann.« Die Trimofa hustete und schlug die Arme gegen den schmalen Körper. »Man fragt in Rußland nie –«
    »Wir können doch hier nicht sitzenbleiben und warten, bis wir vereisen!« schrie Boris.
    »Es stimmt. Wenn du hinaustrittst, geht es schneller.«
    »Und die Pferde? Was soll aus den Pferden werden?«
    »Sie werden verhungern.« Natascha Trimofa erhob sich und streckte die blaugefrorenen Hände über die kleine Flamme des Holzstoßes. »Wir werden sie aber vorher schlachten und ihr rohes Fleisch essen.«
    Über Boris Horns Gesicht zitterte es wie Grauen und Entsetzen. Er lehnte sich gegen die Höhlenwand und ballte die Fäuste.
    »Ich soll mein goldenes Pferd töten?« stöhnte er.
    »Willst du zusehen, wie es verhungert? Willst du hören, wie es schreit, wie es irr wird? Willst du dabei sein, wenn es in die Knie bricht, sich zur Seite rollt und so lange röchelt, bis das Herz bricht?«
    »Ich werde wahnsinnig«, stammelte Boris. Er stand mit geschlossenen Augen am Eingang und zitterte.
    »Du wirst es töten müssen, weil du es liebst, Boris. Und seine große Liebe und Treue wird sein, daß es uns mit seinem Fleisch ernährt und uns vielleicht das Leben zurückgibt. Was willst du mehr von einem Pferd?«
    »Und wie sollen wir durch Tibet nach Indien kommen – ohne Pferde?« fragte Erna-Svetlana.
    Natascha Trimofa schwieg. Auch Boris beantwortete die Frage nicht. Sie dachten beide das gleiche und scheuten sich, es laut auszusprechen.
    Tibet – Indien – die Freiheit. Es waren Utopien, Hirngespinste, Sinnlosigkeiten. Wie hatte Tschetwergow einmal zu Boris gesagt: »Aus Rußland flüchtet man nicht. Ehe der kleine Mensch die Grenze gefunden hat, hat ihn die Natur vernichtet. Mit dem, was von ihm übrigbleibt, werden wir fertig.«
    Erna-Svetlana blickte von Natascha zu Boris, fragend, auf Antwort wartend. Dann beugte sie sich wieder über das Feuer und blies. Es war eine armselige Flamme … aber sie war knisterndes, qualmendes, in den Augen beißendes Leben und ein Hauch von Wärme, der von den Fingerspitzen in die Hände und über den Puls glitt. Doch schon am Unterarm wurde er aufgesaugt von dem kalten Strom, der von draußen in die Höhle wehte.
    Als der Abend kam, legte Boris die Pferde vor den Höhleneingang. Wie ein Wall aus Fleisch und Fell versperrten sie das Einströmen von Schneeluft und Wind. Damit sie nicht wegliefen, hieb er mit einem Hammer eiserne Pflöcke in die Gesteinsritzen und band die Pferde an kurzen Leinen an.
    Im Schutze der Pferdekörper, eng aneinandergeschmiegt und sich gegenseitig wärmend, zugedeckt mit den Fellen der Sojoten, schliefen sie wie Ohnmächtige.
    Sie hörten nicht das Schnaufen der Pferde, nicht das Krachen der Hufe, die zitternd gegen den Fels stießen, nicht das pfeifende Atmen der Lungen, als sich die Felle mit Eiskristallen überzogen und ein neuer Wind den Schnee über die Körper trieb.
    Es wäre ein schöner Tod gewesen.
    Aber am Morgen kam die Sonne –
    *
    Boborykin hatte es sich abgewöhnt, sich zu wundern oder zu fluchen. Er nahm die Dinge hin, wie sie kamen, aus dem Fatalismus heraus, daß das arme kleine Schwein von Mensch doch nichts ändern konnte.
    Als er jedoch vor seinem zusammengebombten Haus in den Balchasch-Sümpfen stand, verging ihm einen Augenblick der Atem. Dann aber fluchte er los, brüllte er, daß es weit über das Moor schallte, und trat in unbändiger Wut auf den zerfetzten Balken herum.
    »Sauhunde!« brüllte er und schüttelte die Fäuste zum Wald hin. »O ihr Mistvögel! Ihr Hurensöhne! Ihr Mißgeburten! Ich bringe euch um, wo ich euch sehen werde.«
    Zur Bekräftigung seines Beschlusses verließ er gegen Abend seine Sumpfinsel wieder und tauchte in der

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