Der Himmel über Kasakstan
ihnen ein Stück entgegen.
»Sanitäter!« brüllte er, als er die Gestalt auf Boris' Schulter sah.
Svetlana sah nicht die Fellmütze und den roten Stern, der auf sie genäht war. Sie empfand keine Angst vor dem Kommenden.
Menschen, dachte sie nur. Endlich wieder Menschen.
Mögen sie menschlich sein –
*
»Wie ist es gekommen?« fragte der junge Leutnant, der die Grenzstation befehligte.
Er stand neben dem Feldscher am Tisch, auf den man Natascha Trimofa gelegt hatte. Hilflos sah der Sanitäter auf das zerfetzte Bein, den geschwollenen Oberschenkel und den Hemdenstreifen, mit dem die riesige Wunde abgebunden war. Auch er hatte versucht, die Abbindung zu lösen, und war von einem Blutstrom überschüttet worden.
»Ein Bär«, sagte Boris.
»Wann?«
»Gestern mittag.«
»Und warum kommen Sie erst jetzt?«
Boris schwieg und sah den Leutnant stumm an. Dieser fing den Blick auf und sah zu Boden.
»Ach so! Fernziel Indien?«
»Ja.«
»Immer dasselbe! Die Dummheit stirbt erst aus mit dem letzten Menschen. Glaubten Sie jemals, Indien zu erreichen?«
»Wenn man keine andere Hoffnung hat als diese, glaubt man es, Leutnant.«
»Wie kann ein Russe jemals anderswo wohnen als in Rußland? Er wäre der unglücklichste Mensch ohne sein Mütterchen.«
»Ich bin Deutscher.«
»Ach!« Der junge Leutnant musterte Boris. Schwarze Haare, ein langer schwarzer Bart, feuchte, stinkende Kleider, durchweichte Stiefel. »Es gibt doch keine Plennys mehr in Rußland!«
»Ich bin Wolhyniendeutscher. Ich habe seit meiner Kindheit keine Heimat mehr –«
Der Feldscher deckte eine Decke über die Beine Nataschas.
»Ich kann nichts machen«, sagte er. »Sie wird sterben. Soll ich ihr ein Spritzchen geben?«
»Hast du nicht gelernt, ein Bein abzunehmen, du Idiot?« fauchte der Leutnant den Sanitäter an.
»Das schon, Genosse Leutnant. Aber ich habe kein Amputationsmesser, keine Säge, keine Klemmen … ich kann doch nicht mit einem Küchenmesser …«
»Nein, das kannst du nicht. Das konnten nur die deutschen Plenny-Ärzte.« Und zu Boris gewandt, sagte er abschwächend. »So erzählt man es wenigstens. Aber man kann ja nicht an ein Märchen glauben …«
Man gab Natascha eine schmerzstillende Spritze und wartete ab.
Nach zwei Stunden erwachte sie endlich aus ihrer Bewußtlosigkeit. Sie sah um sich, erkannte die Uniformen, spürte die herrliche Wärme des Raumes und schüttelte den Kopf, als Svetlana und Boris an den Tisch herantraten.
»Warum?« sagte sie leise. »Es ist doch alles umsonst …«
»Wie fühlen Sie sich, Genossin?« fragte der junge Leutnant. Der Kopf Natascha Trimofas sank zur Seite.
»Ich bin Natascha Trimofa, ehemaliger Kapitän der III. Brigade, 3. weißrussische Front, zuletzt Distriktärztin in Judomskoje.«
Der junge Leutnant biß sich auf die Unterlippe.
»Sie kennen Ihren Zustand, Natascha Trimofa?«
»Ja.« Natascha hob den Kopf. »Stützen Sie mich etwas … vielleicht kann ich es sehen …«
»Ich würde nicht –« Der Leutnant dachte an den gräßlichen Anblick des Beines. »Wir haben alles getan, was wir konnten.«
»Und das ist wenig … ich weiß es. Lassen Sie mich sehen.«
»Bitte, Genossin –«
»Ich habe mehr als ein abgerissenes Bein gesehen!«
»Aber nicht Ihr eigenes.«
»Ob das eigene oder andere … Ich will es sehen!«
Der Leutnant winkte. Der Sanitäter und Boris stützten Natascha. Sie legten ihre Arme unter ihren Rücken und schoben ihren Oberkörper langsam empor, bis sie fast saß. Dann klappte der Leutnant die Decke zurück.
Natascha Trimofa sagte nichts, als sie ihr Bein sah. Der Unterschenkel war eine breiige, vom Frost nochmals gerötete Fleischmasse, durchsetzt von gesplitterten Knochen. Der Oberschenkel, über der Abbindung aufgequollen wie ein aufgeblasener Ball, sah glasig und unheimlich aus.
Mit den Fingerspitzen drückte Natascha auf die pralle Haut oberhalb der Abbindung. Deutlich, allen vernehmbar, knisterte es unter ihr, als sei sie aus Pergament.
»Wissen Sie, was das ist?« fragte sie den Sanitäter, der sie stützte.
»Ja, Genossin.«
»Gasbrand! Amputieren Sie sofort.«
»Womit? Ich habe nichts.«
»Wenn Boris meinen Kasten mitgenommen hat …«
»Das habe ich, Natascha«, rief Boris dazwischen.
»… dann haben Sie alles da. Amputationsmesser, eine Giglisäge, Arterienklemmen, ein Steckskalpell, Narkotika … alles.« Sie legte sich zurück auf den Tisch und starrte an die Holzbalkendecke. Sie spürte, wie ihr Herz schwerer schlug und
Weitere Kostenlose Bücher