Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
das Gefühl der Lähmung in sie hineinkroch. Zu spät, dachte sie. Viel zu spät. Es ist nicht mehr aufzuhalten.
    »Den Stumpf spalten sie weit und tief«, sagte sie mit noch klarer Stimme. »Schneiden Sie weit ins Gesunde hinein und spalten Sie alle Muskeln …«
    »Fang schon an!« schrie der junge Leutnant den Feldscher an, der unschlüssig vor dem Kasten stand, den Erna-Svetlana neben Natascha auf den Tisch gestellt hatte.
    Vor den Augen Nataschas verschleierte sich die Welt. Sie sah Boris' Kopf, frei schwebend im Raum. Die Augen Svetlanas wanderten über sie wie Sterne, und ihre goldenen Haare waren wie zarte Wolken in der untergehenden Sonne von Kasakstan.
    »Wie schön«, sagte sie leise, aber deutlich. Der Sanitäter, der gerade die Abbindung lockerte, zuckte zusammen.
    »Mach schon, du Hornochse«, zischte der Leutnant.
    Natascha Trimofa lächelte, als sie die erste Injektion bekam. Sie schlief ein … sie glitt einfach weg, so, als sei sie eine Feder und wiegte sich im Wind und tanzte hinauf in den Himmel, schwerelos und spielerisch.
    »Sie ist weg, Genosse Leutnant«, sagte der Feldscher. »Aber es hat wenig Zweck, noch zu amputieren. Diese Wunde … der Blutverlust … Gasbrand …«
    »Fang an, du Nichtskönner!«
    Der Feldscher nahm das lange Amputationsmesser aus dem Kasten, hob die Schultern und setzte es oberhalb des Kniegelenkes an.
    Dann schnitt er … es knirschte, als die Schneide über den Knochen fuhr, und es war grauenhaft, als er mit der Giglisäge das Bein abschnitt, als durchsäge er einen morschen Baumstamm. Während er die freiliegenden Adern abklemmte, um später die Ligaturen zu setzen, fegte er mit dem Ellenbogen das abgeschnittene Bein einfach vom Tisch auf die Erde.
    Mit einem dumpfen Laut fiel es auf den Fußboden, vor die Füße des jungen Leutnants. Ein Frauenbein, das einmal schön und schlank gewesen war und über das vielleicht einmal die Hand eines verliebten jungen Mannes geglitten war, und eine selige Stimme gesprochen hatte: Wie schön du bist …
    Zwei Stunden später starb Natascha Trimofa.
    Sie starb an dem Gasbrand, den niemand mehr aufhalten konnte.
    Erna-Svetlana saß bei ihr neben dem Strohbett. Als der Todeskampf begann, nahm sie ihre Hände und hielt sie fest, bis der letzte Atemzug pfeifend von den Lippen kam und der Leib sich streckte, das Gesicht sich entspannte und die Losgelöstheit des Überirdischen über den Körper Nataschas glitt.
    Von Boris hatte sie seit der Operation nichts mehr gehört.
    Er stand in der Nebenhütte vor dem jungen Leutnant und wurde bereits verhört.
    Das Leben ging weiter. Man hält sich in Rußland nicht bei unwichtigen Episoden auf.
    Wie sagen die Bauern südlich von Irkutsk: Wenn du den leuchtenden Mohn mehr liebst als das Korn, wirst du verhungern.
    »Ihr kommt morgen noch weg«, sagte der junge Leutnant hart. »Ich will auf meiner Station keine Mörder haben!«
    *
    Es war für Stephan Tschetwergow eine ungeheure Überraschung, als er bei der morgendlichen Durchsicht der Protokolle auf die Namen Boris Horn und Erna-Svetlana Bergner stieß.
    Sie standen mitten in einem Bericht des NKWD, mitten unter vielen anderen Namen, als seien sie nichts Besonderes.
    »Das kann unangenehm werden«, sagte Tschetwergow laut zu sich und kaute an dem Ende seines Bleistiftes. Er dachte an den beantragten Schadenersatz Andreij Boborykins und die Möglichkeit, daß durch die Aussagen der beiden einige böse Dinge in die Ohren Moskaus kommen konnten: Die falsche Natascha Trimofa, die Gott sei Dank gestorben war, der arme Fedja, der als Mörder Borkins galt, die Zerstörung der Hütte im Sumpf, die sinnlos war, da ja Fedja als Mörder galt … Tschetwergow bekam einen roten Kopf und einen heißen Schüttelfrost und rief zunächst Ilja Sergejewitsch Konjew an.
    »Brüderchen«, sagte er freundlich. »Es geht dir an den Kragen. Boris und Svetlana, unser Täubchen, sind wieder da!«
    »Bring sie um!« schrie Konjew am anderen Ende der Leitung. Er saß an seinem Schreibtisch und kam sich vor wie ein Herzkranker kurz vor dem endgültigen Schlag.
    »Das wird nicht gehen, Brüderchen. Es gibt eine neue Akte über sie. Und wenn in Rußland etwas in den Akten steht, muß schon die Welt untergehen, ehe man es vergißt.«
    »Ich hänge mich auf«, sagte Konjew heiser. »Es wird alles herauskommen. Aber ich sage Ihnen eins, Genosse Tschetwergow: Alles geschah unter Ihren Augen! Alles geschah mit Ihrem Willen. Sie sind mein Vorgesetzter. Ich handelte nur in Ihrem

Weitere Kostenlose Bücher