Der Himmel über Kasakstan
von innen heraus glücklich war, als habe die vergangene Nacht sie verzaubert.
»Und die Pferde, Svetla?«
»Ich werde für sie sorgen. Nimm du Natascha auf die Schulter.«
Boris ging zurück in die Höhle, legte die Trimofa vorsichtig auf seine Schulter und tappte dann durch den Schnee die Schlucht hinauf, der Grenze entgegen und der Militärstation, die für ihn das Ende seines Lebens bedeutete.
Svetlana blieb zurück. Sie sah Boris nach, bis er um die erste Biegung des Weges gegangen war. Dann wartete sie noch ein paar Minuten, nahm das Gewehr, das sie in der Höhle zurückgelassen hatte, und ging hinüber zu den Pferden.
Als die Schüsse durch die weiße Stille peitschten, zuckte Boris zusammen, als habe man ihn getroffen. Er blieb stehen und sah in den blauen, sonnenglitzernden Himmel.
So stand er unbeweglich, bis Erna-Svetlana neben ihm war und das Kopftuch aus der Stirn schob.
»Komm, Bor«, sagte sie stockend. »Jetzt hält uns nichts mehr zurück.«
Schweigend gingen sie weiter, durch kniehohen Schnee, über glatte, vereiste Felspartien.
Und während sie gingen, hielt Svetlana den Kopf Nataschas fest und rieb und streichelte ihn, damit er nicht in der eiskalten Luft erfror …
Einmal – vielleicht nach 4 Werst – war es, als sei Natascha erwacht. Sie stöhnte und sagte einige unverständliche Worte, aber ehe Boris oder Svetlana sich über sie beugten, war sie schon wieder in ihre tiefe Ohnmacht zurückgesunken.
Stolpernd und rutschend, ab und zu anhaltend und nach Luft ringend, die dünner wurde, je mehr sie den Hohlweg emporstiegen, quälten sie sich die 8 Werst in die Felsen, wo die Station der Grenzwache sein mußte.
Als sie nur noch 2 Werst weit entfernt waren, ging Erna-Svetlana langsamer. Verwundert sah sich Boris nach ihr um.
»Was ist, Svetla?«
»Nichts, Bor.« Sie schüttelte den Kopf, aber ihre Augen sagten, daß sie log.
»Bist du müde?«
»Nein, Bor.«
»Warum gehst du langsamer?«
Sie sah hinauf in den blauen, sonnengrellen Winterhimmel; und die Felsengrate leuchteten wie Gold.
»Es sind unsere letzten 2 Werst, Bor«, sagte sie leise. »Danach wird nichts mehr sein –«
Boris schwieg. Er blieb stehen, Wehmut und Wut vor dem unentrinnbaren Schicksal würgten in seiner Kehle. Wie armselig sind wir Menschen doch, dachte er. Wie grenzenlos armselig.
»Vielleicht läßt man uns zusammen«, sagte er heiser. »Wenn du ein Kind bekommst …« Er schwieg weiter, überwältigt von der Erinnerung an die Höhlennacht, die sie verbrachten, neben sich die stöhnende und röchelnde Natascha Trimofa mit einem Bein, das nur an einigen Fetzen und Sehnen hing.
Sie nickte. »Ich habe immerwährend zu Gott gebetet. Laß es ein Kind werden, mein Gott. Laß es ein Kind werden … Er wird mich erhört haben.«
Langsam gingen sie weiter. Den Bergweg hinauf, fast der Sonne entgegen, die grell zwischen zwei Felsen auf sie niederschien.
Plötzlich sahen sie den Rauch der Station. Wie dünne Nebelfäden flatterten 3 Rauchsäulen in den Himmel. Es schien, als kämen sie aus dem Schnee, so wie Sumpfnebel aus dem Boden aufsteigen, Geistern gleich. Erst als sie näher kamen, sahen Boris und Svetlana die niedrigen Holzhütten, halb zugeschneit, mit in den Schnee gegrabenen Gängen, die zu den Türen führten.
»Es ist soweit«, sagte Svetlana. Ihre Stimme klang wie immer … geduldig, hell, fast kindlich.
»Sie haben uns noch nicht gesehen«, sagte Boris. Einen Augenblick jagte ein wahnsinniger Gedanke durch sein Hirn. Obgleich er sich schämte, ihn auszusprechen, sagte er es doch. »Noch hätten wir eine Chance, Svetla. Wir legen Natascha hier in den Schnee und laufen zurück. Dann schießen wir einmal … und wenn die Wache herausstürzt, finden sie Natascha. Wir aber sind frei.«
Erna-Svetlana streichelte über das fahle Gesicht der Trimofa.
»Du könntest sie allein lassen, Bor?«
»Ich habe an dich gedacht, Svetla«, sagte er beschämt.
»Sie leidet und stirbt wegen uns. Wir haben sie auf dem Gewissen, Bor –«
Boris Horn nickte. Er umklammerte den Körper auf seiner Schulter und ging weiter.
»Komm!« sagte er mit rauher Stimme. »Gehen wir unseren Weg bis zum Ende. Wir haben nichts mehr zu verlieren … wir sind schon außerhalb von Wünschen und Hoffnungen.«
Als sie die Eingänge der Hütten genau sehen konnten, begannen sie zu rufen.
»Heij!« riefen sie. »Hilfe! Hilfe!«
In den Türen tauchten Pelzmützen und breite Gesichter auf. Ein Mann in einem dicken Wolfsfellmantel kam
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