Der Himmel über Kasakstan
jede Nacht soff und sich in diesem Augenblick daran erinnerte, wie man sich eine solche Freundschaft erhalten kann. »Ihr Wille zur Flucht aus der Sowjetunion entsprang seinem Kopf. Man könnte Sie als das zweite Opfer dieses Lumpen ansehen, zumal er Sie in Ihrer Wehrlosigkeit mißbraucht hat und das tat, wofür er einen anderen umbrachte. Ein sauberes Früchtchen!« Ehrliche Empörung verschleierte seine Stimme. »Die Anklage gegen Sie ist fallengelassen.«
Als man Boris aus dem Gerichtssaal führte, sah er sich noch einmal nach Erna-Svetlana um. Sie stand an der Tür und winkte ihm schüchtern zu. Ihr goldenes Haar lag offen über ihren Schultern. Wie ein Engel, den man wegschleppt aus dem Paradies sah sie aus.
»Svetla«, stammelte er. »O Svetla –«
»Dawai!« brüllte der NKWD-Posten, der Boris mit dem Karabiner in den Rücken stieß. »Schau nicht zu den Weibern, Hund … Wo du hinkommst, sind Frauen so unerreichbar wie 100.000 Rubelchen …«
Vor der Treppe des Gerichtes stand Erna-Svetlana und sah über das Leben der Straße zu ihren Füßen. Tausende Menschen fluteten vor ihr vorbei … Mongolen, Kasaken, Kalmücken, Russen, Sojoten, Chinesen, Kirgisen, Tataren und Rotarmisten aller Völkerstämme. Frauen in bunten Kopftüchern und weiten Bauernröcken oder in eleganten Großstadtkleidern mit Hüten, wie sie Svetlana noch nie gesehen hatte. Autos wanden sich hupend durch die Menge, Eselskarren ratterten vorüber … still, wie nach dem Rhythmus einer unhörbaren Musik, schwankten zehn Kamele, hoch beladen mit Säcken und Ballen, an der Treppe vorbei.
Menschen – Menschen – Menschen –
Sie würden auch vorübergehen, wenn Svetlana schreien würde: Hört doch! Bleibt doch stehen! Dort drinnen hat man meinen Boris zu lebenslanger Zwangsarbeit verurteilt!
Sie ging um das große Gerichtsgebäude herum … stundenlang, immer rund herum, als sei in ihr ein Karussell, das sie antrieb. Erst gegen Abend öffneten sich die großen Eisentüren an der Rückseite des Hauses. Drei schwere Lastwagen fuhren heraus.
Auf ihren Ladeflächen standen dichtgedrängt und bewacht von einigen Rotarmisten mit angelegten Maschinenpistolen neunzig der Verurteilten. Frauen und Männer, sogar halbe Kinder, die mit großen, ungläubigen, noch nicht ganz das, was mit ihnen geschah, begreifenden Augen in die beginnende Dunkelheit starrten und sich aneinander festklammerten, um bei den Kurven nicht umzufallen.
Erna-Svetlana lehnte sich gegen die weiße Wand des riesigen Gebäudes und suchte nach dem Gesicht Boris'. Die Wagen fuhren langsam … sie mußten aus dem Tor in die Hauptstraße einbiegen und verringerten ihre Geschwindigkeit.
Im letzten Wagen sah sie ihn endlich. Boris lehnte mit dem Rücken an dem Aufbau des Führerkastens … er ragte mit seiner hohen Gestalt einen ganzen Kopf weit aus der Menge der anderen Verurteilten heraus. Er sah nicht auf die Straße … er starrte in den abendlichen Zug der Wolken, die in stumpfem Rot über einen blaugrauen, gelbgezackten Himmel glitten, über den Himmel von Kasakstan, den er einstmals liebte und unter dem er glücklich zu werden glaubte.
Erna-Svetlanas Arme fuhren weit vor, als der Wagen an ihr vorbeirollte.
»Bor!« schrie sie. »Bor! Ja ljublju tibja!« (Ich liebe dich).
Der Kopf Boris' zuckte herum. Er sah die neben dem Wagen herrennende Svetlana und streckte beide Hände nach ihr aus.
»Svetla!« schrie er grell über den Motorenlärm hinweg. »Vergiß mich nicht! Zieh unser Kind groß und sage ihm, daß sein Vater immer an es denken wird!«
Die Wagen fuhren schneller. Mit wehenden goldenen Haaren, den Rock mit beiden Händen über die Knie haltend, rannte Svetlana neben dem Wagen her, keuchend, stolpernd … sie warf sich vor und hob den Kopf immer wieder zu Boris empor, der vorgebeugt auf sie herunterstarrte.
Die Rotarmisten auf dem Wagen lachten.
»Flieg, Täubchen!« schrien sie. »Flieg … vielleicht bist du schneller! Heb das Röckchen noch höher! Dann geht's besser … das Fliegen …« Sie brüllten vor Lachen und winkten der neben dem schneller fahrenden Wagen einherhetzenden Svetlana zu.
»Bor – ja ljublju!« schrie sie grell, mit letzter, keuchender Kraft.
»Wjätschnij! Wjätschnij!« (Ewig, ewig) schrie Boris zurück.
»Bor!!«
Sie stürzte noch einige Schritte voran, dann blieb sie stehen, mitten auf der Straße, mit hocherhobenen Armen, ein lebend gewordener Aufschrei.
Noch einmal sah sie den Kopf Boris' aus der Menge auf dem Wagen ragen,
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