Der hinkende Rhythmus
… also wenn du Liebe machst … mit den Frauen … machst du dann die Augen nicht zu? Du fasst an und begreifst alles, oder? Anfassen genügt, du musst nicht deine Augen öffnen. Guck jetzt … streck die Hände aus, fass mich an.«
»Was?«
»Streck die Hände aus, ich sitze neben dir, wenn du die Hände ausstreckst, kannst du mich anfassen. Komm, fass mich an. Du wirst alles begreifen. Viel besser begreifen.«
»Ich kann dich nicht anfassen.«
»Du willst es nicht stark genug. Wenn du willst, kannst du mich anfassen. Fass mein Gesicht an, komm, fass an.«
»Ich will es, ich will, aber ich kann nicht.«
»Du willst es nicht.«
»Ich will es.«
»Dann bleibst du blind.«
»Nein.«
»Den Rest deines Lebens willst du als Blinder verbringen, ein Blinder, der gar nichts begreift. Blind bist du, blind. Blind!«
»Nein … nein …«
Aus Halils Zimmer drangen herzzerreißende Schreie hinaus und die Krankenschwestern im Flur eilten sofort zu ihm. Halil lag in seinem Bett und schlug um sich. Bald kam auch Müge. »Sollen wir ihm noch eine Beruhigungsspritze geben?«, fragten die Schwestern. Müge meinte, das sei nicht nötig. Halil beruhigte sich allmählich von selbst.
»Meine Mutter«, sagte er.
»Ja«, unterbrach ihn Müge, »ich habe die ganze Zeit überlegt, wie ich es Ihnen sage.«
»Sie haben ihr Bescheid gesagt. Sie ist gekommen. Hierhergekommen«, fuhr Halil fort.
Müge war unruhig und gleichzeitig völlig gelassen, ganz so, als würde sie das denkbar alltäglichste Gespräch führen. Ob ihre Unruhe gespielt war oder ihre Gelassenheit, war nicht auszumachen.
»Ich glaube, das ist wieder ein Streich, den Ihnen Ihr Gehirn spielt, Halil Bey«, sagte sie. »Wir haben versucht, Ihre Mutter zu finden, aber dann haben wir erfahren, dass Ihre Mutter vor einigen Jahren, also, ich glaube vor ungefähr fünf Jahren verstorben ist.«
Müges Worte füllten Halils Kopf mit einem rußschwarzen Rauch, aber er spürte eine seltsame Erleichterung im Herzen. Er schwieg.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Müge. Sie klang dabei nicht besorgt.
Halil antwortete, ihm ginge es gut, er sei nur ein wenig müde und wolle nicht mehr viel sprechen. Müge ließ sich das nicht zweimal sagen und verließ das Zimmer. Halil blieb allein.
Seine Mutter war tot! Sie war also tot. Wie war sie wohl gestorben? War es ein natürlicher Tod oder hatte sie auch einen Unfall gehabt, wie er selbst? Wie alt war sie wohl geworden? Und Erbschaft? Hatte sie vielleicht etwas hinterlassen? Er versuchte, sich das Gesicht seiner Mutter vorzustellen. Eine Frau mit kurzen weißen Haaren. Etwas füllig. Mittelgroß. Als er flüchtig bei diesem Bild verweilte, merkte Halil, dass sie die Frau war, die gerade eben sein Zimmer betreten hatte. Also die Frau im Traum. War das seine Mutter? War die Frau in seinem Traum wirklich seine Mutter? Aber er hatte sie gar nicht gesehen, er war blind, hatte nur ihre Stimme gehört. Wem gehörte dann dieses Bild in seinem Kopf? Seiner wirklichen Mutter? Könnte seine Mutter eine dermaßen fremde Person sein? »Ein Streich, den Ihnen Ihr Gehirn spielt«, hatte Müge gesagt. Welcher war der Streich: die Worte der Frau, die von sich sagte, sie sei seine Mutter, oder diese Ärztin, die von sich sagte, ihr Name sei Müge? Hatte es den Unfall gegeben? War die Wirklichkeit das, was er hörte, oder das, was er sah? Und die Blindheit? War er wirklich erblindet?
Die Fragen, die er sich selbst stellte, raubten ihm bald alle Kraft. Er musste diesem leidvollen Spiel ein Ende setzen – so schnell wie möglich. Irgendeinen Weg finden, um sich aus dieser Klemme zu befreien.
In den folgenden Tagen war Halil so gefügig wie vielleicht noch nie in seinem ganzen Leben. Die Schmerzen, die seinen Körper umspannten, nahm er nicht mehr wichtig. Er hatte sich innerlich einem Punkt am Horizont zugewandt. Was das für ein Punkt war und wohin er gelangen wollte, wusste er zwar nicht, tat aber so, als hätte er ein Ziel. Er stellte keine Fragen, denn er hatte begriffen, dass er die Antworten ohnehin vergessen würde. Wie ein Tier aß er, was ihm vorgesetzt wurde, verlangte jedesmal nach mehr und fing manchmal aus diesem, aber nur aus diesem Grund einen Streit an. Ein paar Tage später sagten die Ärzte, er könne anfangen, Übungen zu machen. In der ersten Zeit lief er zweimal am Tag, eingehakt bei zwei Schwestern, jeweils fünf Minuten, später wurden es jeweils zehn; jetzt brauchte er auch nicht mehr zwei Schwestern als Stütze, sondern nur
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