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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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noch eine. Kurz danach fing er an, doppelt so viel zu üben, als ihm aufgetragen wurde. Um seine Muskeln, die vom langen Liegen gänzlich erschlafft waren, zu trainieren, bat er die Krankenpfleger um Hanteln. Weil ihm diese aber nicht bewilligt wurden, ließ er sich Wasser in PET-Flaschen bringen. Wenn er allein im Zimmer war, band er diese zusammen und benutzte sie als Hanteln. Augenblicke, die sein Körper fern vom Bett verbrachte, waren seine großen Glücksmomente, und je mehr er trainierte, desto mehr fühlte er, dass er seiner Rettung näher kam. Er fühlte sich machtlos und das machte ihn verrückt, er schämte sich dafür, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. In seinen ersten Tagen hier, als er noch nicht aufstehen konnte, aber bei vollem Bewusstsein war, hatte er sogar den Krankenpfleger um eine Urinflasche bitten müssen. Es war schrecklich! Mit seiner eigenen Unfähigkeit konnte er sich nicht abfinden; solche Momente gehörten zu den beschämenden Erinnerungen, und diese galt es sofort auszulöschen. Zum Glück war er blind! So musste er den Leuten nicht auch noch in die Augen sehen, wenn er eine Urinflasche bestellte. Weder Medikamente waren es noch das Essen, auch nicht die Übungen oder die Ärzte oder vielleicht Müge … nein, es war der Stolz, dem Halil seine Genesung verdankte.
    Halil arbeitete nicht nur an seinem Körper, sondern auch an seinem Geist, und zwar unerschöpflich. Er war sich bewusst, dass er vergesslich geworden war. Er wollte sein Gedächtnis auffüllen, wollte seine in unterirdischen Gängen verlorengegangenen Erinnerungen zurückrufen. Dabei war ihm seine Vergangenheit eigentlich egal, in seiner persönlichen Geschichte gab es nämlich wenig, woran er sich erinnern wollte – das wusste er zwar nicht mit seinem Verstand, spürte es aber in seinem Herzen.
    Wenn er seinen Kopf reparieren wollte, dann aus diesen zwei Gründen: erstens aus demselben Grund, dem auch sein Drang nach körperlicher Genesung entsprang; nämlich, um sich nicht zu blamieren, wenn er mit Fragen über seine Vergangenheit konfrontiert wurde und sich in einer schwarzen mentalen Leere wiederfand. Zweitens, und das war vielleicht wichtiger, wollte er sich an den Unfall erinnern, der ihn in diesen Zustand versetzt hatte. Er wollte diesen Knoten in seinem Geist endlich entwirren!
    Seinen Körper zu behandeln war für Halil nicht besonders schwer, er kannte den Weg oder konnte ihn ertasten. Aber das Gedächtnis? Was er auf diesem Gebiet unternehmen musste, auf diesem weiten Feld, dessen er sich früher nicht einmal bewusst gewesen war, fand er trotz seiner ganzen Bemühungen nicht heraus. Könnte er wenigstens sehen, dann würde er alles aufschreiben, er würde jeden Tag seine Aufzeichnungen lesen, und das wäre eine Art Gedächtnistraining, eine Möglichkeit, sein Erinnerungsvermögen zu aktivieren. Es ging aber nicht. Er konnte nicht sehen. Er musste einen anderen Weg finden. Könnte er vielleicht jemanden um Hilfe bitten? Bloß wen? Die Krankenpfleger und Ärzte, die das Zimmer betraten, wechselten dauernd und Halil konnte nicht wirklich erkennen, wer nun wer war, weil er nur ihre Stimmen hörte. Nur Müge! Halil konnte nur Müge an ihrer Stimme erkennen. Würde sie das vielleicht tun? Dann würde ihr Halil nämlich erzählen, woran er sich erinnerte, sie würde es aufschreiben und ihm dann irgendwann später, zum Beispiel am nächsten Tag, vorlesen. Wäre Müge damit einverstanden, Halil seine Erinnerungen vorzulesen? Vielleicht würde sie ja einen anderen Vorschlag machen, ihm einen anderen Weg aufzeigen, eine andere Methode beibringen.
    Aber eine solche Bitte sprach Halil nie aus. Im Grunde wusste er schon während dieser Gedankenspiele, dass er das nicht tun würde, dass er einen Menschen, den er nicht kannte, den er nie »gesehen« hatte, und vor allem eine Frau, unter keinen Umständen um Hilfe bitten konnte. Er durfte niemandem etwas schuldig bleiben. Halil konnte nur sich selbst helfen. Und er musste alles daransetzen, den Weg dafür zu finden.
    Er verfügte über ein einziges verlässliches Wissen; an alles, was seit seinem Erwachen im Krankenhaus geschehen war, an die Entwicklung seiner Krankheit, an seine Schmerzen und seine Medikamente konnte er sich in chronologischer Reihenfolge erinnern. Das heißt, sein Gedächtnis war nicht gänzlich ruiniert, nur die Vergangenheit hatte sich aufgelöst. Wenn er versuchte, weiter zurückzudenken, kam er durcheinander, unzusammenhängende Ereignisse, Personen,

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