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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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Kleidung entdeckt. Ich glaube, diesen Staub haben Sie auch in die Augen bekommen. Die Netzhaut ist ernsthaft beschädigt. Aber wir hoffen, dass Sie, wenn auch schwach, wieder sehen werden.«
    Halils Ohren dröhnten … Blind sein für immer? Nichts mehr sehen können … Ewiges Schwarz!
    Er spürte, wie alle Muskeln seines Körpers zu Wasser wurden, wie dieses schwarzgelbe Wasser vom Bett hinunterrann und durch ein Loch im Boden wegsickerte. Er wollte weinen, wollte schreiend weinen. Aber kann ein Blinder überhaupt Tränen haben?
    Halil dachte nicht länger nach. Er sprang aus dem Bett und riss mit sich auch die Serumflaschen und Schläuche, die an verschiedenen Stellen seines Körpers befestigt waren, und alle Behälter, an denen die Schläuche hingen. Müge schrie auf, versuchte, ihn aufzuhalten, scheiterte aber an seiner Kraft. Sie drückte auf einen Knopf und rief so laut sie konnte um Hilfe. Im Nu war das Zimmer voll. Halil warf sich wie ein verzweifelter Riese, an dem überall Flaschen baumelten, im Zimmer hin und her. Eine Krankenschwester zog eilig mit zitternden Händen ein Beruhigungsmittel in eine Spritze und stach die Nadel in seinen Arm. Kurz danach sank der Riese wie ein besiegtes Tier taumelnd auf den Boden. Vier Krankenpfleger mussten anpacken, um diesen schweren Körper aufs Bett zu hieven. Die Flaschen und Schläuche wurden wieder angeschlossen. Die abschließenden Kontrollen wurden durchgeführt. Allmählich leerte sich das Zimmer. Als Letzte blieb Müge zurück. Eine Weile betrachtete sie Halil, der wie ein Toter im Bett lag, mitleidsvoll, wütend, gereizt. Dann ging auch sie hinaus.

    Gegen Morgen wachte Halil auf. Licht füllte das Zimmer und blendete ihn. Er versuchte, sich daran zu gewöhnen, obwohl es wehtat. Ihm war, als würden sich tausende Nadeln in seine Pupillen bohren. Er schirmte die Augen mit den Händen ab, aber der Schmerz ließ nicht nach. Die Dunkelheit nahm ihn wieder gefangen und er schloss die Augen. Da hörte er die Tür.
    »Frau Ärztin? Ich habe ein Licht gesehen, ein sehr starkes Licht!«
    »Ich bin keine Ärztin, Halil.«
    »Mutter?«
    »Ich bin’s, mein Sohn.«
    »Hat man dir Bescheid gesagt? Bist du deswegen gekommen?«
    »Man hat mir Bescheid gesagt, mein Sohn. Sie haben mich angerufen. Ihr Sohn hat einen Unfall gehabt, er möchte Sie sehen, haben die gesagt.«
    »Ich kann dich nicht sehen, Mutter. Ich bin erblindet.«
    »Lüge. Du bist niemals blind gewesen. Das lass ich nicht gelten. Du machst die Augen nicht auf, deswegen glaubst du, blind zu sein.«
    »Ich kann sie nicht aufmachen. Ich habe es versucht. Wenn ich sie öffnen will, dringt ein ganz schreckliches Licht in meine Augen. Direkt in meinen Augapfel rein, es tut sehr weh.«
    »Sei nicht launisch. Mach die Augen auf.«
    »Ich kann sie nicht aufmachen. Ich probiere es, kann es aber nicht. Die Ärzte haben es gesagt, Mutter. Ich habe einen Unfall gehabt, haben sie gesagt, ich bin erblindet.«
    »Aber deine Augen sind doch da, mein Sohn, guck, ich kann sie sehen.«
    »Du ja, aber ich kann nicht sehen. Wann wirst du das endlich begreifen?«
    »Sei nicht so dickköpfig. Du wirst schon wieder dickköpfig.«
    »Ich kann nicht sehen.«
    »Das hast du als Kind auch gemacht. Du hast die Augen geschlossen und bist rumgerannt und hast gesagt, ich bin blind, völlig tollpatschig, du hast alles umgestoßen, alles kaputtgemacht. Da war eine Vase, die mochte ich sehr. Aus violettem Glas. Auch die hast du kaputtgemacht. Du erinnerst dich, oder? Du hast den Blinden vorgespielt und meine Lieblingsvase kaputtgemacht, violett. Erinnerst du dich?«
    »Ich kann mich nicht erinnern.«
    »Was?«
    »Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht wegen des Unfalls. An vieles kann ich mich nicht erinnern. Wie der Unfall passiert ist, daran kann ich mich auch nicht erinnern.«
    »Du bist so ein Schlitzohr. Schauspieler bist du. Hättest Schauspieler werden sollen. Bist aber nur ein Halunke geworden. Es ist meine Schuld, dass du ein Halunke geworden bist. Ich hab dir kein Benehmen beigebracht. Hab dich zu sehr dir selbst überlassen.«
    »Ich habe Angst, Mutter.«
    »Hab keine Angst. Es gibt nichts zu fürchten. Warum hast du denn Angst?«
    »Was ist, wenn ich für immer blind bleibe?«
    »Du hast Hände. Auch wenn du nicht siehst, kannst du anfassen. Durch Anfassen kannst du alles begreifen. Das weißt du, oder?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Doch, doch, du weißt es. Eigentlich weißt du alles, du tust nur so. Mit den Frauen zum Beispiel

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