Der hinkende Rhythmus
Gefühle blitzten in seinem Gehirn wie Fragmente aus unterschiedlichen Filmen auf. Wenn er nun das alles irgendwo sammeln und dann wie die Teile eines Puzzles zusammenfügen könnte, wäre sein Gedächtnis wieder vollständig. Ja, genau das würde er auch tun. Er musste es tun.
Schließlich erdachte er sich eine Methode. Er wollte ganz von vorne beginnen, mit dem Buchstaben A. Dann käme B an die Reihe und dann C … Sich jeden Tag einen Buchstaben des Alphabets vornehmen, Wörter mit diesem Anfangsbuchstaben aneinanderreihen und versuchen, sich Bilder zu diesen Wörtern vorzustellen – das war die Aufgabe. Also: Abend, Acker, Affe, Ader, Applaus, Apparat, Auge, Arzt, Auto … Genau an diesem Punkt erschien ein seltsames Bild. Ein kleines Kind, so um die sechs, sieben Jahre alt, das auf der Straße läuft … Halil kam von hinten rasch auf das Kind zu, packte es und … daran, was dann folgte, konnte er sich nicht erinnern; auch nicht, was vorher war. Hatte er etwa ein Kind entführt? Wer war dieses Kind? Sein eigener Sohn? Warum hatte er bei dem Wort Auto diesen Erinnerungsfetzen gesehen? Halil musste sich an Fragen gewöhnen, auf die es keine Antworten gab. Ein Teil des Puzzles! Vielleicht auch ein unerheblicher Teil. Wird also fürs Erste zur Seite gelegt.
Und er fuhr mit seinen Übungen fort. Manchmal lief alles in ordentlichen Bahnen, er konnte mit A anfangen und dann bis Z alle Wörter, an die er sich erinnerte, hintereinander aufzählen. Doch manchmal verlor er sich irgendwo in der Mitte, geriet durcheinander, vergaß, wo er stehengeblieben war, und musste von vorne beginnen. Anfangs fielen ihm zu jedem Buchstaben an die fünf oder zehn Wörter ein. Einfache Wörter, die meistens Gegenstände benannten. Später wurden es immer mehr. Auch abstraktere und seltenere kamen hinzu: Bei F erinnerte er sich an Freiheit, bei W an Würde, bei U an ungewiss … Allmählich gelang es ihm immer besser, Bilder zu seinen Wörtern ohne einen einzigen Aussetzer aneinanderzureihen. In letzter Zeit konnte er sogar an einem einzigen Tag drei-, viermal von A bis Z gehen.
So kehrte Halils Gedächtnis allmählich zu ihm zurück, wenn auch nicht so schnell wie sein Körper. Seine Kindheit war jetzt klarer … seine Freunde, der Geruch seiner Mutter, die Streitereien mit dem Vater, wie arm sie waren und wie er auf den Maulbeerbaum im Nachbarviertel kletterte, seine Prügeleien mit den Kindern in der Grundschule – und die Ohrfeige, die er von seinem Mathelehrer kassierte …
Dieser Koloss mit Schnurrbart hatte ihm mit dem Handrücken eine solche Ohrfeige verpasst, dass er gegen die Wand flog und zurückprallte, und darauf folgte eine weitere auf die andere Wange. Wie es sich anfühlt, jemanden zu hassen, dürfte Halil damals zum ersten Mal erfahren haben, aber auch, wie rachsüchtig er sein konnte. Zwei Wochen lang hatte er weder gegessen noch getrunken und auch nicht seiner Mutter geantwortet, wenn sie immer wieder sagte: »Du musst doch essen, mein Sohn, warum isst du nichts?« Hatte stattdessen nur an diese Ohrfeige gedacht, war am Ende der zweiten Woche eines Mitternachts aus dem Bett gekrochen und hatte jeden Quadratzentimeter des neugekauften Wagens des Lehrers, Marke Şahin, aber so aufgepäppelt, als wäre er ein Doğan, mit einem Schraubenzieher ordentlich zerkratzt. In jener Nacht war er elf Jahre alt.
Am nächsten Morgen hatte der Kerl sein Auto in diesem Zustand gesehen und vor Verzweiflung den Kopf gegen die Mauer geschlagen, und Halil, der ihm von der Straßenecke aus zugeschaut hatte, war es zwar etwas leichter ums Herz geworden. Er hatte aber zugleich gewusst, dass diese Ohrfeige eigentlich durch nichts gerächt werden konnte. Weil der Mathematiklehrer im Laufe der Woche nicht nur ihn, sondern viele weitere Kinder geohrfeigt hatte, konnte der Täter nicht ermittelt werden. Halil hatte niemand verdächtigt.
Wie schön wäre es gewesen, wenn er sich jetzt nicht daran erinnert hätte. Wie schön, wenn er manche Lebensabrisse dort lassen könnte, wo sie sich verkrochen hatten, während er den Rest seines Gedächtnisses zu sich zurückrief. Halil wusste aber, dass das nicht möglich war, und freute sich über jede Erinnerung, die er retten konnte, selbst wenn sie ihm das Herz zerriss.
Manchmal tat er sich etwas Gutes, indem er schöne Situationen, denen er selten begegnete, länger währen ließ. Wie er das erste Mal ein Mädchen küsste, wie seine Großmutter seine Haare streichelte, der Tag, an dem er die
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