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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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Grundschule beendete, ein Vorstellungsgespräch, das gut gelaufen war …
    Es waren aber nicht immer klare und ausgedehnte Szenen, an die er sich erinnerte. Manchmal flackerte ein einfaches Bild nur kurz auf, dann wehte eine Empfindung an seinem Herzen vorbei, aber der Rest wollte nicht folgen. Als er zum Beispiel den Buchstaben M bearbeitete, löste der Name Murat eine flüchtige Beklemmung aus, aber an mehr konnte er sich nicht erinnern. Bei B hörte er zu dem Wort »Begräbnis« die Stimme eines Vorbeters, der den Gebetsruf sang, doch wessen Begräbnis das war, wollte ihm nicht einfallen. Bei K erschien ihm ein Kopftuch, das in die Lüfte flog. Ein rotes Kopftuch schwebte zwischen den Autos … aber auch diese Erscheinung konnte Halil nicht deuten.
    In diesem Krankenhaus, von dem er nicht hätte sagen können, wie lange er schon da war, wurde Halil noch einige Male operiert. Zweimal am Auge und einmal an der Niere.
    Das Krankenhauspersonal, ahnungslos darüber, welche übermenschlichen Anstrengungen Halil in seinen einsamen Stunden machte, verfolgte verwundert die Geschwindigkeit seiner Genesung. Physisch hatte er fast seine ehemalige Kraft wiedererlangt. Ein großer Teil seines Gedächtnisses war, wenn auch lückenhaft, zurückgekehrt. Die Ärzte meinten, die Augenoperationen seien erfolgreich gewesen. Aber abgesehen von den kurzen Perioden, in denen ihm, bedingt durch die Augentropfen, die Welt wie hinter einem Duschvorhang erschien, lebte Halil immer noch im Dunkeln.
    Er hatte ein paar Besucher gehabt. Einige Freunde, ein Cousin … Halil hatte sie erkannt, aber keine emotionale Beziehung zu ihnen gespürt. Ob das auch schon vor dem Unfall so gewesen war oder eine neuerworbene Gleichgültigkeit, wusste er nicht genau.
    Einige Zeit, nachdem er zu sich gekommen war, hatte er gehört, dass ihm ein gewisser Murat Bakır Blumen geschickt hatte, daraufhin hatte er seinen Cousin gebeten herauszufinden, wer dieser Mann war, und schließlich erfahren, dass besagter Murat Bakır eine Textilfabrik besaß. Der Name Murat, der ihn bei M beklommen machte, musste diesem Murat gehören. Halil war, soweit er dem Bericht seines Cousins entnehmen konnte, schon eine Weile sein Fahrer gewesen, und der Wagen, mit dem er den Unfall hatte, gehörte ihm. Aber was Murat Bakır für ein Mensch war, das wusste er nicht mehr.
    Der Unfall … Das war immer noch das große Geheimnis. Halil konnte sich überhaupt nicht erinnern, was geschehen war, ging jedoch nicht von eigenem Verschulden aus. Für diese Katastrophe musste jemand oder irgendetwas verantwortlich sein. In allen Momenten der Klarheit hatte er jedem, dem er begegnete, jedem einzelnen seiner Besucher immer wieder Fragen nach dem Unfall gestellt. Er hatte in den Polizeiberichten nachschauen lassen, war aber zu keinem Ergebnis gekommen. Der Unfall war für Halil ein unerträgliches Rätsel.
    Am Nachmittag klopfte es an der Tür und Müge trat herein. Halil erkannte sie mittlerweile bereits an der Art und Weise, wie sie die Tür öffnete. Er hatte sogar gespürt, dass sie an diesem Tag etwas Ungewöhnliches hatte. Müge räusperte sich und fing an zu sprechen.
    »Wie geht es dir heute?«
    »Gut. Und dir?«
    »Ja, gut, sehr gut.«
    Es wurde geschwiegen. Halil wartete darauf, dass sie weitersprach, aber Müge konnte sich nicht entschließen, wie sie anfangen sollte.
    »Heute ist das Wetter etwas bedeckt.«
    »Ja? Dann brauche ich mich ja nicht zu grämen, dass ich die Sonne nicht sehen kann.«
    Beide lächelten angespannt.
    »Halil, es gibt etwas, worüber wir reden müssen.«
    »Das habe ich schon bemerkt.«
    »Es hat auch Vorteile, dass du nicht sehen kannst, guck, du kannst alles spüren.«
    »Ich weiß nicht, ob es gut ist, alles zu spüren. Ich hätte lieber gesehen.«
    »Du brauchst nur etwas Zeit. Du wirst sehen.«
    »Ich warte ja. Ich kann nichts anderes tun.«
    »Halil … wo du sagst, ich warte … darüber wollte ich mit dir sprechen.«
    »Ich höre.«
    »Eigentlich ist das irgendwo auch eine gute Nachricht. Physisch gesehen geht es dir ziemlich gut. Auch dein Gedächtnis ist zum großen Teil wiederhergestellt. Also, es mag ja noch hier und da ein paar Lücken geben, aber das wird mit der Zeit besser.«
    »Und die schlechte Nachricht?«
    »Die schlechte … also, ich weiß zwar nicht wirklich, ob das schlecht ist, aber … es ist halt … wird für dich vielleicht ein wenig schwierig sein.«
    »Was ist es?«
    »Die Kosten für die Klinik übernimmt die Firma, bei der du

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