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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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und Ganzen behaglich zumute. In einem Vakuum der Zeit floss er mühelos und still dahin. Mit einem tierischen Instinkt wusste er, dass er nichts tun konnte und war von der eigenartigen Ruhe erfüllt, sich gänzlich ergeben zu haben; auch wenn er nicht sagen konnte, was es war, dem er sich ergeben hatte. Manchmal glaubte er, aufzuwachen und die Augen zu öffnen, und als er sah, wie die ganze Umgebung in Finsternis gehüllt war, empfand er eine unsägliche Angst. Er glaubte, seinen Körper für immer verloren zu haben, und stellte sich vor, dass er als nackte Seele in der Unendlichkeit baumelte. Entweder hatte er die Unsterblichkeit erreicht oder den Tod. In solchen Momenten zappelte er und schrie und jammerte, murmelte mal sinnvolles, mal sinnloses Zeug, bettelte und schimpfte und brach in Tränen aus, oder vielleicht glaubte er nur, all dies getan zu haben. Dann vergaß er alles. Und es stellte sich wieder Ruhe ein.
    An jenem Tag, zum ersten Mal, seitdem er in diesem fürchterlichen Strudel wirbelte, geschah etwas Seltsames: Eine warme, sanfte Hand berührte Halils Arm. Halil glaubte, wieder würde sich einer dieser wüsten Träume ankündigen, aber so kam es nicht.
    »Wie geht es Ihnen? Hören Sie mich?«, sprach eine Stimme zu ihm.
    Er stand wieder an der Schwelle zu einem Verwirrspiel. Deshalb blieb er eine ganze Weile ruhig. In dieser Stille hörte er die Atemzüge einer Frau neben sich. Die Frau stand auf und er hörte ihre Schritte, kleine Schritte auf niedrigen Absätzen. Ein Vorhang wurde aufgezogen. Doch an der Finsternis um Halil änderte sich nichts. Halil nahm seine Hände wahr, seine eigenen Hände. Sie lagen zu beiden Seiten seines Körpers. Er hob leicht den rechten Arm, den eben die Frau berührt hatte. Er spürte keinen Schmerz. Er führte seine Hand zu seiner Brust. Die Hand gehorchte ihm und bewegte sich.
    »Wie fühlen Sie sich? Können Sie sprechen?«, fragte die Frau.
    Halil stieß einen tiefen Atem aus. Die Stimme der Frau beruhigte ihn. Er wollte einen Versuch wagen.
    »Ich kann sprechen«, sagte er oder glaubte vielmehr, das gesagt zu haben; zu hören war nämlich nur ein Röcheln. Die Frau legte wieder ihre Hand auf Halils Arm.
    »Ganz ruhig«, sagte sie, »lassen Sie sich Zeit. Strengen Sie sich bitte nicht an.«
    Aber Halil wollte nicht aufgeben, er musste sprechen. Er musste verstehen, was mit ihm geschehen war.
    »Wo bin ich?«, fragte er. Jede einzelne Silbe kostete ihn große Mühe.
    »Sie sind im Krankenhaus«, wurde ihm geantwortet. »Sie hatten einen Unfall. Einen Verkehrsunfall.«
    Einen Verkehrsunfall. Er hatte also einen Verkehrsunfall! Die Stimme fuhr fort:
    »Sie haben lange in Ohnmacht gelegen. Sie sind mehrmals operiert worden. Aber Sie haben einen kräftigen Organismus, Ihr Gesundheitszustand entwickelt sich …«
    Die Stimme schwand allmählich dahin. Den Rest konnte er nicht mehr hören. Ein bleierner Schlaf überwältigte ihn.

    Die Leere, in die Halil dieses Mal gefallen war, dauerte nicht so lange, wie er selbst glaubte. Träume, Trugbilder, Schmerzen füllten seine Zeit so stark aus, dass er die reale Zeit nicht mitbekam. Als Halil die Stimme der Frau wieder hörte, kam es ihm vor, als würde eine Bekannte sprechen, an die er sich nach vielen Jahren nur neblig erinnern konnte, doch eigentlich waren nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen. Die Frau sprach mit jemand anderem:
    »Sie müssen etwas achtsamer sein, seine Decke lag auf dem Boden, als ich hereingekommen bin. Messen Sie jetzt bitte seinen Blutdruck. Und sagen Sie Schwester Nimet Bescheid, wir werden den Katheter herausnehmen.«
    Schwester? Blutdruck? Er lag also tatsächlich im Krankenhaus! Das verwunderte ihn, fehlte ihm doch jegliche Erinnerung, wie er dahin gelangt sein sollte, aber gleichzeitig freute er sich, denn er war in einer Welt, die er kannte. Er bemühte sich, die Augen zu öffnen und die Frau zu sehen, die gerade medizinische Begriffe aneinanderreihte, von denen er keinen verstand. Die Mühe, die er sich gab, musste wohl von außen sichtbar gewesen sein, denn sie sagte: »Er regt sich«, und kam näher. Sie beugte sich über ihn. Jetzt konnte Halil ihren Duft einatmen; ein leichter, angenehmer Blütenduft … Er nuschelte wieder irgendetwas, aber dieses Mal verstand sie es.
    »Was ist passiert?«, fragte Halil.
    »Sie hatten einen Unfall. Sie sind im Krankenhaus«, antwortete die Frau.
    »Was ist passiert?«, wiederholte er.
    »Es war ein schlimmer Unfall, Halil Bey«, erwiderte sie. »Sie

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