Der hinkende Rhythmus
abgelehnt. Er konnte selber für sich sorgen!
Aber jetzt erlebte er zum ersten Mal, wie schmerzlich die Einsamkeit sein konnte, er wusste nicht, wie er hier wieder herauskommen sollte, und diese Ungewissheit verhärtete und verbitterte ihn. Nach einer Weile stand er auf. Er wollte sich so verhalten, als wäre nichts passiert. Er wollte geradeaus gehen, als könne er sehen … als wäre alles normal. Gott würde ihm helfen, er würde seinen Weg schon finden! So fühlte er sich jetzt.
Er tat ein paar Schritte. Seine Schulter berührte leicht eine Wand, er merkte, dass es sich um eine Tür handelte. Er betrat das Wohnzimmer, lief einige Schritte weiter, dann ertönte ein Klirren. Im gleichen Moment stolperte Halil und landete vornüber auf der Ursache des Geräuschs. Glassplitter. Seine Hände schmerzten. Er versuchte, sich aufzurichten. Spürte, dass eine lauwarme Flüssigkeit von seinen Handgelenken hinunterrann. Er führte eine Hand zum Mund, leckte daran; es war Blut. Dann betastete er sein Gesicht und rieb und rieb es immer weiter. Endlich hielt er inne. Er stellte sich vor, er hätte einen Spiegel vor sich und könne sehen.
Unter den Glühwürmchen
Es war ein großer Tag im Viertel; an jeder Straßenecke wurde entweder Tamburin oder Geige oder Klarinette gespielt, die umherfliegenden Klänge fluteten durch die Gassen und zogen alle in ihren Bann. Nicht nur die Jungs in weißen Hemden und mit spitz zulaufenden Schuhen, Mädchen mit sauerstoffgebleichten Haaren, dunklem Teint, strahlenden Augen und runden Hüften, zahnlose Omas mit eingefallenen Wangen, bucklige Opas mit quicklebendigem Blick, sondern auch lausige Köter, Königskatzen, Mäuse, die ihr Leben lang keinen Käse angerührt hatten, und sogar die von harter Arbeit erschöpften Ameisen blieben stehen und bereiteten sich darauf vor, sich der Herrschaft der Musik zu unterwerfen. Man hatte zwar hier und da Luftballons aufgehängt, doch Romajungs mit abgewetzten Sohlen ließen sie einen nach dem anderen mitgehen und versteckten sie an ihren geheimen Orten, um sie später platzen zu lassen. Freche Gören ließen die Girlanden, die Schulkinder aus Krepp-Papier gebastelt hatten, verschwinden. Aber das riesige schneeweiße Transparent aus grobem Leinen, auf dem jeder Buchstabe in einer anderen Farbe prangte, sah so beeindruckend aus, dass die ganze Straße so richtig geschmückt wirkte. Auf dem Transparent stand in Großbuchstaben: »WILLKOMMEN CEVDET«.
Ob Cevdet wirklich so beliebt war, ist schwer zu sagen. Die Bewohner des Viertels hatten gedacht, nach so langer Stille müsse endlich eine Feier her, und man fand auch ein gutes Alibi: Cevdet wurde freigelassen. Was sich in den Herzen seiner Freunde regte, mit denen er im Teehaus Pik-Dame spielte, und in denen der jungen Kiffer, für die er hin und wieder Stoff besorgte, bleibt zwar ein Geheimnis, aber es gab mindestens einen Menschen, der sich über die Rückkehr Cevdets wirklich freute: Safiye.
Safiye tanzte zu jedem Rhythmus, den sie von jeder Ecke aufschnappte, ließ jede ihrer Brüste anders kreisen und brachte selbst die ernstesten Roma zum Lachen. Yunus fand diesen Zustand seiner Mutter peinlich; er hatte das Gesicht verzogen, seine Nase in die Luft gereckt und spielte in dieser Haltung auf seinem Tamburin. Güldane sah, ein Honiggebäck in der Hand, dem bunten Treiben zu und lachte über die beiden. Sie war gutgelaunt, im Viertel ging es lustig zu.
Doch dann geschah es in einem unerwarteten Moment, dass ein Windhauch Güldanes Herz streifte. Eine dunkle, unheilvolle Erscheinung strich über ihre Seele. Dieser Wind, der sich immer zu ungelegener Stunde meldete, war Güldane nicht mehr fremd. Ihre Laune verflog. Sie verließ ihren Platz am Fenster, griff zu ihrem Heft aus Schulzeiten mit Matheaufgaben auf den vorderen und Fotos von Schauspielern auf den hinteren Seiten und schlug es auf. Dazwischen lag ein leicht vergilbter Zeitungsschnipsel und darauf stand eine Meldung ohne Foto. Überschrift: »Jeep fliegt in die Baustelle«. Darunter stand: »Die Baugrube eines neuen Einkaufszentrums in Etiler schluckte einen Jeep. Das Fahrzeug mit dem amtlichen Kennzeichen 34 TZ 4125 flog in die Grube, über der ein Einkaufszentrum entstehen soll. Die Unfallursache konnte noch nicht ermittelt werden. Der Fahrer des Jeeps, Halil Mavioğlu, wurde schwer verletzt. Er konnte erst nach langwierigen Bergungsarbeiten aus dem Fahrzeug befreit werden und wurde in die Şişli-Etfal-Klinik eingeliefert.«
Güldane hatte
Weitere Kostenlose Bücher