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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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arbeitest, das weißt du. Wir haben denen auch regelmäßig Berichte über deinen Gesundheitszustand geschickt. Schließlich … also an diesem Punkt, wo du gerade angekommen bist, haben sie gesagt, sie können nicht mehr weiterzahlen.«
    Auf Halils Gesicht konnte man unmöglich lesen, was er wirklich empfand.
    »Ihr setzt mich also vor die Tür.«
    »Ich habe versucht, eine Möglichkeit zu finden, dass du wenigstens so lange hier bleibst, bis du die Augen öffnen kannst, aber …«
    »Danke für die Mühe. Es lohnt sich nicht.«
    »Ich weiß, dass du allein lebst. Es wird dir nicht leicht fallen.«
    »Kein Problem …«
    »Halil, wenn du möchtest …«
    »Ich möchte nichts. In einer oder zwei Stunden bin ich fertig.«
    Müge konnte jetzt die Nervosität Halils deutlich empfinden und begriff, dass es besser war zu schweigen. Trotzdem suchte sie nach Worten, mit denen sie die Situation entspannen könnte. Sie fand aber keine.
    Normalerweise bewahrte Müge immer eine gewisse Distanz zu ihren Patienten. Aber irgendwie geschah es, dass diese Distanz gegenüber Halil auf eine gefährliche Art und Weise wankte. Wie oft hatte sie sich dabei erwischt, dass sie ihn lange betrachtete. Wie oft hatte sie, während sie andere Patienten besuchte, gespürt, dass sie eigentlich so schnell wie möglich bei ihm ankommen wollte. Wie oft hatte sie zu Hause allein am Tisch gesessen und sich ausgemalt, Halil würde ihr gegenübersitzen. Sie war sich darüber im Klaren, dass er kein gebildeter Mensch war und dass sie vielleicht auch kein gemeinsames Gesprächsthema gefunden hätten. Aber trotzdem hatte dieser Mann irgendetwas, das Müge verwirrte. Vielleicht war es seine Attraktivität oder sein männlicher Stolz, vielleicht auch sein Bedürfnis nach Liebe, die ihm aus allen Poren drang … Aber da war noch etwas anderes, etwas viel Stärkeres, nämlich: eine unbeschreibliche Unmöglichkeit.
    »Ruf an, wenn du etwas brauchst«, sagte Müge und schlich sich leise aus dem Zimmer hinaus. Halil hörte, wie die Tür geschlossen wurde.

    Halil brachte eine übermenschliche Kraft auf, ersetzte seine Augen durch seine Hände, zog sich an und fand allein den Ausgang. Den Bediensteten dort bat er, ein Taxi heranzuwinken. Beim Einsteigen in den Wagen lehnte er die von allen Seiten angebotene Hilfe ab. Er nannte dem Fahrer die Adresse. Sonst sprach er kein Wort. Vor seinem Haus stieg er aus.
    Halil schloss die Tür auf, trat ein und musste feststellen, dass er sich in dieser Wohnung überhaupt nicht auskannte. Das war auch zu erwarten gewesen: wer prägt sich schon einen Ort ein, an dem er alles sehen kann? Er wusste nicht, wo die Möbel standen, wo welcher Gegenstand untergebracht war und wie man sich hier zu bewegen hatte. Er versuchte, sich in seiner bruchstückhaften Erinnerung die Wohnung vorzustellen, und tatsächlich erschienen ein Sofa im Wohnzimmer, eine Küchentheke und auch ein Esstisch vor seinem inneren Auge – doch sie alle ergaben jetzt, in diesem Moment, in diesem Zustand der Blindheit keine Gesamtheit, keinen Sinn. Die einzelnen Bilder fanden sich nicht zu einer Wohnung zusammen, stattdessen schienen die Möbelstücke in einem schwarzen Ozean vor sich hinzutreiben. Halil wurde klar, dass er alles noch einmal kennenlernen, mit seinen Händen neu erkunden musste. Er streckte die Arme nach vorn und tat einen Schritt. Er stieß auf nichts. Noch ein Schritt … und noch einer. Mit jedem Schritt verlor er seine Lebensenergie ein bisschen mehr und merkte, dass er sich in seiner eigenen Wohnung an solch eine Finsternis nie gewöhnen würde und auch nie gewöhnen wollte. Ein weiteres Mal nahm ein Schwindelgefühl sein ganzes Wesen gefangen. Seine ausgestreckten Hände zitterten, seine Knie schlugen gegeneinander. Er sank zu Boden und blieb dort eine Weile reglos sitzen.
    »Halil, wenn du möchtest …«, hatte Müge im Krankenhaus einen Satz angefangen, aber Halil hatte sie nicht weitersprechen lassen. Was hätte sie wohl gesagt, wenn er sie nicht unterbrochen hätte?
    »Wenn du möchtest, kannst du bei mir wohnen …«?
    Oder: »Wenn du möchtest, komme ich mit dir mit …«?
    Halil hatte ihr nicht einmal erlaubt, den Satz zu beenden.
    Müge war später noch einmal vorbeigekommen. »Du sollst nicht allein nach Hause, komm, ich gebe dir jemanden zur Begleitung mit, dann musst du den ersten Schritt in die Wohnung nicht ganz allein machen, das wird dir bestimmt helfen«, hatte sie nachdrücklich auf ihn eingeredet. Doch Halil hatte wieder

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