Der hinkende Rhythmus
wurde gemächlich geöffnet. Aus dem Auto stieg Cevdet, noch ein bisschen massiger als damals, ein bisschen beleibter, ein bisschen schwerer. Necip hatte seinen alten Freund Cevdet vom Gefängnis abgeholt und auf einem goldenen Tablett ins Viertel gebracht. Die wenigen Sekunden lang, die zwischen dem Öffnen der Tür und Cevdets Ausstieg aus dem Auto verstrichen, schwiegen alle, schwieg alles, die Hühner, die auf der Mauer hockten, mit einbegriffen. Dann aber stieß Safiye aus den Tiefen ihrer Brust ein »Aaaaaach!« heraus, stürmte in die Arme ihres Mannes und im selben Moment strömten alle Willkommensrufe, aller Applaus, alle Tamburine, alle Geigen und alle schönen kugelrunden Bäuche auf den Platz des Viertels.
Cevdet, in der einen Hand eine Zigarre, die er wer weiß wo aufgetrieben hatte, die jedoch wunderbar zu dem alten amerikanischen Auto passte, in der anderen Hand die linke Brust Safiyes, fing sofort an, lauthals zu fragen: »Wo bleibt denn meine Löööwenmiiilch!«
Es dauerte nicht lange, und ihm wurde ein Glas mit Rakı und zwei Eiswürfeln in die Hand gedrückt. Nachdem er den ersten Schluck getrunken hatte und zu sich gekommen war, blickte er sich nach seinen Kindern um. Als er sie dann beide etwas abseits entdeckte, wie sie da in ihren schönsten Kleidern standen und darauf warteten, an die Reihe zu kommen, um von ihm in die Arme genommen zu werden, freute er sich so sehr, dass er mit einem prächtigen Ruf »Allaaah!« seine Kinder an sich drückte.
In den Armen ihres Vaters lehnte Güldane den Kopf an seine Brust und blieb so stehen. Sie fühlte sich seit dem Unfall zum ersten Mal ein wenig erleichtert. Schließlich war sie nicht allein, schließlich hatte sie einen Vater, und er war ein unerschrockener Mann, und er würde sie beschützen, also falls ihr etwas passieren sollte … etwas Schlimmes … passieren sollte … Güldane spürte, dass sich ihre Gedanken wieder verdunkeln würden, wenn sie weiter nachdachte, und bremste sich.
»Na los«, sagte sie dann, »los, was stehen wir so rum!«
Eigentlich stand aber niemand herum. Safiye hatte ihr Kopftuch schon längst um die Taille gebunden und Yunus sein Tamburin unter den Arm geklemmt. Güldane gesellte sich zu ihnen, überließ ihre Seele dem hinkenden Rhythmus der Musik und zerstreute all die bösen Gedanken, die sich in den Windungen ihres Körpers eingenistet hatten. Je mehr sie verflogen, umso ausgelassener wurde Güldane. Sie tanzten, bis ihnen schwindelte, bis es Morgen wurde.
Als das erste Licht des Tages das Viertel erreichte, sah Güldane ihre Mutter und ihren Vater, sich immer wieder umarmend, immer wieder zwickend, stolpernd und wieder aufstehend nach Hause torkeln. Alles deutete darauf hin, dass eine feurige Bettszene bevorstand. Güldane schaute ihnen etwas neidisch, aber noch viel mehr lächelnd nach, als sie plötzlich Yunus’ Blick begegnete. Mit der schelmischen Begeisterung, ein kleines Geheimnis zu teilen, das man gleichzeitig entdeckt hat, lächelten sie sich zu. Eine Weile betrachteten sie mit erschöpften Augen die letzten Roma, die noch in den Gassen verblieben waren. Auf jeden Einzelnen war die ganze Schwere des Abends herabgesunken. Manche hatten es nicht einmal abwarten können, nach Hause zu kommen, hatten sich unter einem Vordach zusammengerollt und waren eingeschlafen. Als sich auch der letzte Tamburinspieler auf dem Boden ausgestreckt hatte, kam Yunus auf seine Schwester zu und ergriff ihre Hand.
»Komm, lass uns auch gehen«, sagte er.
Sie kamen vor ihrem Haus an. Yunus versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war von innen verriegelt. Die Geschwister machten sich nichts daraus, kicherten spitzbübisch und ließen sich auf den Treppenstufen vor dem Eingang nieder. Als wäre es nicht das gleiche Viertel, das noch vor ein paar Stunden wie besessen gefeiert hatte, war es jetzt in eine tiefe Stille gehüllt. Auch Güldane und Yunus ruhten eine Weile in dieser Stille. Irgendwann zog Güldane eine von Schweiß durchnässte, zerknitterte Zigarettenschachtel aus ihrem Ausschnitt und fingerte nach einer Zigarette. Yunus streckte die Hand aus:
»Gib mir doch auch eine.«
Güldane schlug sanft auf seine Hand, sagte: »Weg da, du bist noch klein«, und zündete ihre Zigarette an. Yunus fühlte sich gekränkt, aber nicht, weil er den Klaps auf die Hand bekommen hatte, sondern weil er sich anhören musste, er sei noch klein.
»Und du«, sagte er, »bist du etwa so groß? Wart nur ab, wenn ich es meinem Vater sage
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