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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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wohlgeformt alles bei ihm war … Mund und Nase, Stirn und Kinn … als hätte ihn jemand sorgfältig gezeichnet. Unwillkürlich streckte sie die Hand nach Halils Gesicht aus. Sie berührte seine Nasenspitze. Halil zeigte keine Reaktion. Sie strich mit dem Finger über die kaum sichtbare Linie auf seiner Stirn, Halil reagierte wieder nicht. Sie berührte sein Kinn, ihr Zeigefinger wanderte vom Kinn auf den Adamsapfel … und da schluckte Halil plötzlich. Güldane zog ihren Finger rasch zurück, als hätte sie sich verbrannt. Danach blieb Halil wieder ganz still liegen. Güldane hatte keine Angst. Schließlich waren seine Augen bandagiert. Selbst wenn er jetzt aufwachte … Könnte er aufwachen? Würde er? Und wenn er nicht aufwacht? Wenn er gar nicht mehr aufwacht? Wenn all dieses Serum, diese Medikamente, diese Schläuche nichts nützen? Der Gedanke, die mögliche Täterin eines noch nicht begangenen Mordes zu sein, senkte sich wie ein Albtraum auf sie nieder.
    Und dieser Gedanke bewirkte nun, dass sie sich Halil näher fühlte. Hier, sie stand vor ihrem Opfer. Ein riesengroßer Mann, vielleicht zweimal so schwer wie sie, wer weiß um wie viele Zentimeter größer, die Schultern doppelt so breit … die Muskeln kraftvoll … die Hände … Güldane legte ihre Hand auf die Halils, die schlaff neben seinem Körper lag … seine Hand doppelt so groß. Trotzdem war er das Opfer; Güldane drückte ihren Daumen gegen seinen, schob ihn, ließ ihn los. Halils Daumen bewegte sich zurück, wie eine Tür, die langsam zufällt.
    »Siehst du«, sagte Güldane, »siehst du, so geschieht es einem. Nicht jeder Vogel fängt sich in der ersten Schlinge. Du hast mit mir gespielt. Aber nicht jeder lässt mit sich spielen. Dann krepierst du eben so, siehst du.«
    Die Wörter kamen ihr nicht von den Lippen, sondern verwandelten sich in Tränen und flossen aus ihren Augen.
    »Du hast gedacht, ich bin ein Kind, nicht wahr? Hast gedacht, ich bin eine Spielzeugpuppe! Und ich werde dir immer hinterherrennen, nicht wahr? Und dann bringst du mich zum Weinen und kannst es so richtig genießen, ja? Aber weißt du, was du nicht weißt? Ich weine nicht, ich weine nie. Du wolltest dich noch männlicher fühlen, wenn du mich weinen lässt, was? Bist du ein Mann? Guck, du liegst hier im Krankenhaus rum wie ein Sack voller Scheiße. Du kratzt hier ab, wenn ich nur will. Ich ziehe einfach diese Kabel raus, ich schmeiß das ganze Serum weg und du kratzt auf der Stelle ab. Die Spielzeugpuppe macht dich kalt, siehst du? Siehst du? Du kannst nicht sehen … vielleicht wirst du auch blind. Erblinden sollst du … Hat deine Mutter das mal zu dir gesagt, erblinden sollst du? Wenn sie das gesagt hat, dann hat es aber geklappt. Du bist blind geworden. Mehr wirst du nicht mehr sehen von der Welt. Ist dir mein Gesicht im Gedächtnis geblieben, he? Erinnerst du dich an mich? An das Zigeunermädchen, das dir immer hinterhergerannt ist? Aber wen kümmert’s! Du kannst dich erinnern, so viel du willst. Wenn dir die Polizei ein Foto zeigt, kannst du es ja nicht sehen, du wirst es nicht mal merken, wenn ich direkt vor dir stehe. Du Plagegeist, du Schuft, du Tier du …«
    … sprach sie und da stieß Halil einen tiefen Atem aus. Güldane spürte diesen Atem auf ihrem Gesicht. Ihr wurde seltsam zumute. Ihr Herz, so kam es ihr vor, zuckte und zitterte für einen Moment. Ihre Gedanken flogen in alle Richtungen davon. Sie zupfte unbewusst ihren Rock zurecht. Sie stand da, sah auf Halil. Er war nackt. Das Laken, mit dem er zugedeckt war, endete unter der Brust. Güldane betrachtete ihn lange. Lange sah sie dieses Wrack an, das ihr Herz in eine Wirrnis verwandelte. Sie fasste das Laken an einem Ende. Langsam, aber ohne innezuhalten zog sie es herunter … und weiter herunter … bis zu seinem Bauch … bis zu seinen Lenden. Und weiter? Mit einem Satz riss Güldane das ganze Laken fort. Der tadellose Körper des jungen Mannes lag jetzt starr vor ihr, wie ein Gemälde. Güldane hielt es nicht mehr aus. Röte stieg ihr ins Gesicht, und noch rechtzeitig, bevor ihr das Herz heraussprang, sauste sie davon … weg von dem Zimmer … weg von dem Flur … weg von der Klinik … weg von der Gasse … weg von der Straße …
    Der wilde Schrei ihrer Mutter riss Güldane aus ihrem Tagtraum heraus … Sie fegte aus dem Haus. In der Mitte des Viertels stand ein antiker amerikanischer Wagen. Die Tür des Buick, Jahrgang 78, mit Goldfirnis lackiert, Augapfel des altbewährten Dealers Necip,

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