Der hinkende Rhythmus
Gegend. Man hat dich hier noch nicht gesehen.«
Halil verstand, dass das eigentlich eine Frage war.
»Ich bin Taxifahrer.«
»Und?«
»Und ich habe gedacht, ich ruhe mich hier ein wenig aus, trinke einen Tee. Was dagegen?«
Mit dieser Frage sah Halil dem jungen Typen direkt in die Augen. Jetzt fühlten sich die beiden Männer gegenseitig auf den Zahn. Sie wägten ihre Kräfte ab. Es gab weder einen Sieger noch einen Verlierer. Der junge Mann drehte sich um, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Halil fiel auf, dass er hinkte.
»Unfall?«
Sein Gegenüber verstand die Frage nicht.
»Was?«
»Du hinkst. Hast du das seit deiner Geburt oder hattest du einen Unfall?«
Der Typ mochte die Frage nicht.
»Weder noch.«
Mit dieser Antwort hatte er, ohne es zu ahnen, die Überlegenheit des Älteren akzeptiert. Ein kaum sichtbares, spöttisches Lächeln zeichnete sich in Halils Gesicht ab. Vielleicht feierte er seinen Sieg.
»Dann hast du also einen Fehler gemacht!«
Der junge Mann nahm selbstvergessen einen Zug von seiner Zigarette.
»Würd ich heute wieder machen.«
Daraufhin bestellte Halil zwei Gläser Tee.
»Also eine Wunde im Herzen!«
Der andere gab zwar keine Antwort, nahm aber den Tee an, auf den ihn Halil einlud. An jenem Tag sprachen sie dieses Thema nicht mehr an, spürten jedoch, dass sich leise eine Freundschaft zwischen ihnen anbahnte.
Halil suchte in den darauffolgenden Tagen oft dieses Viertel auf, setzte sich in das gleiche Teehaus und führte brockenweise Unterhaltungen mit seinem neuen Freund, von dem er erfuhr, dass er Muharrem hieß. Seine Familie war von Adapazarı hierher gezogen. Er war waschechter Roma. Seit zwanzig Jahren lebte er in diesem Viertel. Er war zweiundzwanzig und arbeitete in einer Autowerkstatt.
Jedesmal, wenn Halil wie ein Fuchs durch das Viertel strich, sperrte er Augen und Ohren auf, um etwas über die Blumenverkäuferin zu erfahren, traute sich aber nicht, jemanden direkt zu fragen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Und folglich fand er nichts Brauchbares über das Mädchen heraus.
Später fing Halil an, für kleine Reparaturen in Muharrems Werkstatt zu gehen. »Komm, ich fahr dich mal ein wenig herum«, sagte er eines Abends und nahm ihn mit in seinem Wagen. Sie fuhren an den Bosporus. In Dolmabahçe tranken sie Bier im Auto und waren gut angeheitert.
Das Gespräch, trunken, bruchstückhaft, wolkenverhangen, kam irgendwann schließlich auf Muharrems Wunde im Herzen. Und ohne Umschweife erzählte er von seinem Geheimnis.
Da gab es ein Mädchen in seinem Viertel. Muharrem kannte sie von klein auf. Dort kannte ohnehin jeder jeden. Sie aber war ganz anders als die anderen Mädchen, sogar anders als alle anderen Menschen. Nun würde es Halil vielleicht falsch verstehen, wenn er das alles hörte. Er würde sie vielleicht sogar für eine Schlampe halten. Sie war aber keine. Nach Mitternacht, nicht nach jeder, nur nach mancher Mitternacht, wenn ihre Mutter und ihr Vater und alle Nachbarn schliefen, zündete sie im Bad auf der Rückseite des Hauses, mit einem Fenster zur kleinen Gasse hinaus, eine Kerze an, öffnete den Vorhang, zog sich langsam aus und erlaubte den versammelten jungen Männern, ihr zuzuschauen. Diese Darbietung, von der nur ausgewählte Viertelbewohner wussten, war aber nicht umsonst. Das Geld sammelte der Bruder des Mädchens ein. Und einmal, als wieder so eine Darbietung war, hatte ihr Vater irgendetwas gewittert und kam heraus, und während alle anderen wie aufgescheuchte Hühner davongelaufen waren, hatte Muharrem ihm die Stirn geboten. Der Vater hatte nicht lange gehadert und ihm einfach das Messer ins Bein gerammt. So war diese »Herzwunde!« entstanden.
Das erzählte Muharrem. Halil fand diese Geschichte überhaupt nicht nachvollziehbar. Dass auch noch der Bruder das Geld einsammelte, hatte er Muharrem schon gar nicht abgenommen. Dieser sprach, warum auch immer, einen Schwur nach dem anderen, um Halil zu überzeugen. Er küsse das Heilige Brot, sagte er, »der Koran und die Heiligen sollen mich treffen«, konnte aber die Zweifel in Halils Augen nicht hinwegwischen. Eigentlich enttäuschte es ihn auch ein wenig, dass er ihm nicht glaubte.
Eines schönen Tages, Halil war gerade von Balat in Richtung Aksaray unterwegs, klingelte sein Telefon. Es war Muharrem. Er klang aufgeregt.
»Bruder«, sagte er, »heute Abend kommst du in unser Viertel. Komm um zehn. Wir trinken ’ne Runde. Den Rest überlässt du mir.
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