Der hinkende Rhythmus
Herz war eigentlich schon erweicht, auch wenn sie ihren Bruder weiterhin anherrschte.
»Natürlich sage ich gut so. Was für Typen hast du da zusammengetrommelt!«
»Was für Typen denn?«
»Bist du in andere Viertel gegangen?«
»Nein, nie. Nur unser Viertel. Immer gleich.«
Güldane war in Gedanken. Sie wusste, dass sie nicht erfahren konnte, wie ihr Halil auf die Schliche gekommen war, indem sie Yunus in die Enge trieb.
»Sind alle weg?«, fragte sie.
»War ganz schwer, sie wegzuschicken«, sagte Yunus. »Manche wollten ihr Geld zurück, die haben gesagt, es war noch nicht fertig. Und ich hab das Geld nicht zurückgegeben und sie haben mir die Hölle heiß gemacht. Konnte mich gerade noch retten. Also, wenn du sowas nochmal machst, dann misch ich mich nicht ein, nur damit du es weißt.«
»Sie sind alle weg, oder? Bist du sicher?«
»Sind weg, hab ich ja gesagt. Was sollen die da noch rumstehen?«
Güldane hatte angefangen, mit einem Feind zu leben, von dem sie nicht wusste, wann und woher er zuschlagen würde, dessen Atem sie aber stets in ihrem Nacken spürte. Halils Atem glühte in ihr. Glühte und vertrocknete alles. Außer in den kurzen Momenten, in denen sie sich einredete, dieses Augenpaar im Fenster gehörte nicht zu Halil, es sei nur eine Sinnestäuschung gewesen, lebte Güldane in ständiger Unruhe. Besonders, wenn sie allein zu Hause war, fuhr sie bei jedem Geräusch hoch, sah beim Blumenverkaufen in jedem schwarzen Jeep Halil sitzen und wurde auf der Straße immer wieder von dem Gefühl überwältigt, jemand würde sie verfolgen.
An jenem Morgen war der Himmel strahlendblau, als sie aus dem Haus ging, aber am Nachmittag sammelten sich alle schwarzen Wolken des mittleren Asien und des gesamten Balkans über Istanbul. Weder wurden sie zu Regen, noch jagte sie der Wind; sie schmiegten sich aneinander und blieben einfach am Himmel hängen. Die Sonne verlor Minute um Minute ihre Kraft und zu früher Stunde senkte sich eine beunruhigende Dunkelheit auf die Stadt. Die Istanbuler, die diese Unruhe verspürten, kauften, vielleicht weil sie dachten, es könnte sie ein wenig aufheitern, Rosen und Nelken bei Güldane – zuerst vereinzelt und dann immer mehr.
Als die Farbe des Himmels in Dunkelgrau wechselte, obwohl es eigentlich noch gar nicht so spät war, erinnerte sich Güldane daran, dass sie nach Hause gehen sollte. Ihre Blumen waren schon ausverkauft. Sie musste den Korb holen, den sie im Lager des Teegartens beim Maçka-Park gelassen hatte, und morgen wieder mitbringen. Mit diesem riesigen Korb konnte sie nicht in den Bus einsteigen, obwohl sie sich das gerade jetzt so sehr gewünscht hätte. Deshalb machte sie sich zu Fuß auf den Weg.
Als sie von Maçka nach Harbiye lief, fiel ihr auf, dass es kein Abend wie jeder andere war, dass viel weniger Menschen als sonst unterwegs waren, dafür aber unzählige Schatten. Zwischen Harbiye und Dolapdere verschwanden die Menschen fast gänzlich, und selbst von den Hunden waren nur noch ihre Schatten übriggeblieben. Güldane hörte ihren eigenen Atem. Sie schluckte und klammerte sich an ihrem Korb fest. Es war offensichtlich, dass heute etwas Sonderbares in der Luft lag. Istanbul um diese Uhrzeit so menschenleer – nein, das war einfach nicht möglich. Sie beschleunigte ihre Schritte und merkte plötzlich, dass auch ihr Klang verschwunden war. Das sonst übliche Tipp-Tapp war nicht mehr da. Sie stampfte auf den Boden, hörte aber trotzdem nichts. Sie blieb stehen, horchte; nein, nichts. Als wäre sie nicht in Istanbul, der Stadt, in der Millionen von Menschen leben, sondern in einem tropischen Wald, wie sie ihn von Filmen her kannte. Wo waren die geliebten Menschen mit ihren hängenden Gesichtern, wo waren die Taxis, die nach Flüssiggas stanken, die Autos mit kaputtem Auspuff … Kein einziges der von Geistern besessenen, nachtaktiven Romakinder war zu sehen. Wenn es wenigstens ein paar Nutten geben würde, so als Feldhüter … ein paar Straßenhunde, ein paar Katzen mit Pilz auf ihren Nasen. Die Umgebung war zwar noch vertraut, die Häuser … die Straßen. Sie wirkten aber nicht echt, sondern so, als hätte man ein Foto von ihnen gemacht und als einziges lebendes Wesen eine Blumenverkäuferin in dieses Bild hineingesetzt.
»Klick!«
Kaum hatte Güldane diesen Laut gehört, drehte sie sich um; ein huttragender Schatten mit hochgekrempeltem Jackenkragen bog in eine Gasse mit Kopfsteinpflaster und verschwand.
»Trrck!«
Dieses Mal von der Seite.
Weitere Kostenlose Bücher