Der hinkende Rhythmus
Der Schatten eines buckligen Mannes löste sich in den Mosaiken an der Fassade eines Mehrfamilienhauses auf.
»Klick!«
Ein Schatten, der sich neben einer Wäscheleine zwischen zwei Häusern hinunterbeugte und die Hände nach Güldane ausstreckte, verschwand, als die Straßenlaterne plötzlich ausging.
»Klack!«
Ein langer, dünner Mann, der auf sie zukam, floss direkt vor ihrer Nase durch das Kanalisationsgitter ab.
»Hick!«
Der Mann, der hinter ihr her war, hatte Schluckauf! Dieses Mal war sich Güldane sicher. Sie konnte es deutlich hören, das glucksende Geräusch war dicht an ihrem Ohr … und auch Schritte! Tack tack tack … hick hick … tack tack … hick …
Güldane erschrak zu Tode, schleuderte den Korb fort und fing an, wie eine Wahnsinnige zu rennen. Sie lief so schnell, dass sie den Wind, die Wolken, die Nacht zerriss, aber der Schluckauf an ihrem Ohr entfernte sich nicht einen Augenblick.
»Er ist gekommen«, sagte sich Güldane, »Halil ist gekommen, er wird mich umbringen.«
Sie hatte selbst die Lichtgeschwindigkeit übertroffen, als sie die Haustür erreichte. Dort blieb sie für einen Moment stehen. Für einen Moment Stille. Ist er immer noch hinter ihr her? Nichts, gar nichts zu hören …
Nichts, gar nichts zu hören, dachte sie, und da ließen alle Männer des Viertels einen kollektiven, triumphalen Schrei los. Außer sich rettete sich Güldane ins Haus. Bleicher als jedes weiße Papier und mit Haaren, die ihr zu Berge standen, begriff sie in der Person ihres Vaters, was der Aufschrei zu bedeuten hatte. Die Türkei lag eins zu null vor Kroatien!
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war ein Wasserglas, das Yunus ihr reichte:
»Komm, trink, tut deinem Schluckauf gut.«
Sie sank auf der Stelle zu Boden.
Mit einem schweren Zitronengeruch wachte Güldane auf. Drei Paar besorgte Augen starrten sie an. Safiye rieb mit Kölnisch Wasser, das ihr Yunus in die Handfläche träufelte, Güldanes Stirn und Handgelenke, während sie unaufhörlich klagte …
»Dieses Mädchen hat der böse Blick getroffen. Schiefe Augen sind vor Neid zerplatzt, deshalb ist mein Kind jetzt so ausgedörrt wie eine Dörraprikose. Ihre Freude ist verflogen, ihr Auge ist erloschen. Sind es die Dschinn oder die Dämonen? Mein großer Gott, hilf, schütz mein Mädchen vor dem bösen Blick, gib ihr ihren Verstand wieder … mein Määädchen … mein Määädchennn … Yunus, los, bring deinem Vater eine Aschura aus dem Kühlschrank!«
Yunus wandte sich zum Gehen und Safiye fügte hinzu: »Bring mir auch eine mit!«
Es folgten Löffel, dann noch ein Teller und noch ein Teller … Sie machten es sich gemütlich, aßen alle Aschuras auf und Güldane bekam allmählich ihre Rosenfarbe zurück.
»Morgen«, sagte Cevdet mit vollem Mund, die Weizenkörner des letzten Löffels Aschura mit der Zunge hin und her schiebend, »machen wir Picknick.«
Während seine blendende Idee von allen mit großer Freude bejubelt wurde, fügte er hinzu:
»Das Mädchen kommt dann auch ein wenig zu Kräften.«
Am nächsten Tag brachte Cevdet sie zu seinem »Arbeitsplatz« zum Picknicken. Die Baustelle, wo zum Teil der erste Stock eines Hauses stand und der Rest nur eine Baugrube war, die ganzen herumliegenden Betonplatten und die Baustähle fand die Familie zunächst etwas befremdlich, und Cevdet nahm ihnen das übel.
»Was habt ihr denn«, sagte er, »das ist doch mein Arbeitsplatz. Was wollt ihr mehr? Auf dem Beton kann man sehr schön picknicken, und die Kleider werden nicht dreckig.«
Er schwieg und sah sich um. Er suchte nach einem stärkeren Argument. Als er die Baustähle entdeckte, glänzten seine Augen.
»Sogar Stiele gibt’s. Genau wie im Wald. Na also!«
Jetzt lachten alle auf. Weil es Sonntag war, gab es außer dem Wächter niemanden auf der Baustelle. Mit ihm war Cevdet von Kind an befreundet und verdankte ihm obendrein diesen Job. Sie hatten zusammen nicht wenige Frösche gesammelt, damals, als sie noch klein waren. Der Wächter ließ sich nicht lange bitten und setzte sich zu ihnen. Auf dem Betonboden, wo später der Block A hochschießen sollte, breiteten sie die Tücher aus … Rakı wurde ausgepackt und auch Obst und Gemüse … das Übliche, nichts Besonderes … Yunus schlug ein paar Takte auf seinem Tamburin. Ein Fuß des Wächters war zwar kürzer als der andere, aber er war Roma. Und so fügte sich sein Körper tadellos dem bewegten Rhythmus. Sich windend und schüttelnd, den höherstehenden Fuß um den anderen
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