Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
Vom Netzwerk:
durchflutete ihn. Eine Zeitlang nahm er keinen Fahrgast auf und fuhr allein herum. Die chaotischen Straßen wirkten wie Heilmittel auf ihn und lockerten nacheinander seine inneren Knoten. Er schaltete das Radio an. Ein fröhliches Volkslied aus Zentralanatolien erfüllte den Wagen … Er fuhr in Richtung Bosporus.
    Der Bosporus lag in einem dunklen Türkis. Strömungen aus allen Richtungen unterbrachen jeglichen Fluss des Wassers und das Meer, in der Meeresenge eingeschlossen, schlug verzweifelt mit seinen Wellen; es schäumten weiße Hügelchen. Feine Wolken am Himmel nahmen der Sonne ihre Hitze und legten vor die ganze Landschaft einen Filter. Trotz allem, was ihm geschehen war, empfand Halil Freude, weil er dieses Bild sehen konnte, weil seine Augen gerettet waren. Allmählich würde alles gut werden, das spürte er.
    Er fuhr langsam Richtung Rumelihisarı, als ihn eine junge Frau heranwinkte. Halil hatte bis jetzt alle Fahrgäste abgelehnt, blieb aber dieses Mal stehen. Die Frau stieg hinten ein und sprach dabei weiter in ihr Mobiltelefon.
    »So oft habe ich gefragt, so oft! Er leugnet es jedesmal. Ich werde wahnsinnig …«
    Sie sprach ununterbrochen mit weinerlicher Stimme. Halil fuhr eine Weile und als er in Istinye an der Kreuzung ankam, fragte er: »Entschuldigung, wo fahren wir hin?«
    Die Frau sagte in einem Ton, als müsste Halil die Antwort bereits kennen, als hätte jeder andere sofort gewusst, wo man überhaupt hinwollen kann: »Zu Akmerkez.«
    Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Tasche und putzte sich die Nase, ohne ihren Redefluss zu unterbrechen.
    Diese Frau hatte etwas, das an Müge erinnerte, aber Müge war natürlich nicht so schwach. Halil konnte sich nicht vorstellen, dass sie so weinen, ständig die Nase putzen und die ganze Zeit klagen könnte. Selbst wenn sie überhaupt weinte, dann bestimmt nur in einsamen Momenten, in denen es niemand mitbekam.
    Sie erreichten Akmerkez. Die Frau weinte und sprach immer noch, während sie Halil das Geld reichte. Dann stieg sie aus und lief mit schnellen Schritten auf das Einkaufszentrum zu. Sie hatte sich so schnell entfernt, dass Halil keine Möglichkeit gefunden hatte, ihr das Wechselgeld zu geben. Er rief ihr nach:
    »Das Wechselgeld, die Dame!«
    Doch die Frau hörte ihn gar nicht. Weinend ging sie auf den Eingang zu.
    Halil rieb dieses erste, nach langer Zeit verdiente Geld an seinem Bart. Er wünschte sich, das erste Geschäft des Tages möge ihm Glück bringen. Und fuhr los.
    Bis es Abend wurde, beförderte er einen alten, pensionierten Lehrer, der dann im Wagen seinen Schirm vergaß, zwei junge Leute Anfang zwanzig, die miteinander schäkerten, eine Frau von mittlerem Alter, eine richtige Plaudertasche, die unablässig Fragen stellte und einen ausladenden Hut trug, eine Mutter, die ihr Kind schalt, und ein Ehepaar, das wegen der Renovierung der Wohnung stritt, von einem Fleck der Stadt zum anderen. Er fuhr über enge, schlammige Straßen, über Kopfsteinpflaster, über Schlaglöcher, über Brücken, Stadtautobahnen, über Viadukte. Er verfuhr sich in Sackgassen und entkam einige Male nur knapp einem Unfall. Er schwitzte, seine Brust schnürte sich zu, er wurde müde. Er trank Wasser, blieb stehen, vertrat ein wenig die Beine und fuhr weiter. Rote Ampeln, grüne Ampeln, er wartete, er fuhr. Während dieser Reise durch die Adern Istanbuls blitzte immer wieder das Bild des Zigeunermädchens in seinem Kopf auf. Als er endlich zu Hause ankam, war er selbst zum Essen zu erschöpft. Ohne sich auszuziehen, legte er sich aufs Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.

    »Das hast du aber nicht gut gemacht!«
    »Was?«
    »Dieser Job … den du gefunden hast … das hast du nicht gut gemacht.«
    .......
    »Du kannst nicht als Taxifahrer arbeiten. Geht nicht. In dieser Stadt kannst du nicht Taxi fahren.«
    »Kann ich wohl.«
    »Kannst du nicht. Du baust einen Unfall. Du bringst Menschen um.«
    »Ich bin ein guter Fahrer.«
    »Aber du hast schon einen Unfall gebaut. Du bist fast gestorben. Guck, du hast dich verletzt, mein Sohn. Siehst du nicht, wie du aussiehst?«
    »Mir geht es gut.«
    »Dir geht es nicht gut. Guckst du nicht in den Spiegel? Du hast überall Wunden.«
    »Im Gesicht nicht.«
    »Doch. Über der Augenbraue. Du siehst es nicht, weil deine Augen nicht gut sehen.«
    »Meine Augen können jetzt sehen. Das ist vorbei. Meine Augen haben sich geöffnet.«
    .......
    »Was kann ich denn sonst tun? Taxifahren ist doch genau mein Ding.«
    »Du mein armer Sohn …

Weitere Kostenlose Bücher