Der hinkende Rhythmus
Einverstanden?«
Halil schmunzelte über seine kindliche Aufregung, ließ sich aber nicht zweimal bitten und antwortete: »Einverstanden.« Um vier Uhr nachmittags übergab er den Wagen dem Nachtfahrer und ging nach Hause. Er wusch sich Hände und Gesicht, machte ein Schläfchen, kochte sich Nudeln und lief nach dem Essen nach Dolapdere.
Punkt zehn war er im Teehaus. Sein junger Freund wartete auf ihn. Sie gingen in eine nahegelegene Meyhane und tranken eine Runde. Gegen zwölf machten sie sich auf den Weg zurück zum Viertel. »Man mag hier keine Fremden«, sagte Muharrem. »Setz deine Mütze auf und leg dir diesen Schal hier um. Ich krieg das geregelt.« Halil tat, wie ihm geheißen.
Sie waren gerade beim Lebensmittelhändler um die Ecke gebogen, da hörten sie ein Tamburin.
»Da!«, rief Muharrem, »genau pünktlich!«
Sie trafen sich mit ihresgleichen, mit den Vergessenen in den abgeschiedenen Gassen Istanbuls und warteten stumm vor einem schwarzen Fenster. Endlich war es so weit. Hinter dem Fenster leuchtete eine dürftige Kerze auf. In ihrem zittrigen Licht erschien eine sehr junge Silhouette.
Halil kannte diese Silhouette. Sein Herz fing an zu trommeln. Es trommelte so heftig, dass er seine Hand auf die Brust presste, damit es die Umstehenden nicht hörten.
Während das Mädchen sich in der Mitte des Fensters auszog, entledigte sich auch Halils Gedächtnis der Hüllen, in die es sich eingewickelt hatte. Mit den Ohren hörte er die beschleunigten Atemzüge der Männer neben sich, aber mit den Augen sah er dort, wo er hinschaute, etwas anderes als sie. Im Kerzenschein, in jenem kleinen Fenster, sah Halil die Straße in Etiler. Die Blumenverkäuferin … Wie sie hinter dem Jeep, an dessen Steuer er sitzt, herrennt … wie sich diese Szene nochmal und noch einmal wiederholt … wie sich das Ganze in ein amüsantes Spiel verwandelt … das rote Kopftuch, das durch die Luft flattert … an alles, an jedes Detail erinnerte er sich. Und dann schließlich auch daran, wie sich das Mädchen für einen Moment hinunterbeugt und dann wieder an dem Seitenfenster erscheint, ihm den Staub in ihrer Hand ins Gesicht schleudert, wie der Jeep außer Kontrolle gerät und mit großem Getöse in die Baugrube stürzt. Und in diesem Augenblick blieb sein Herz stehen.
Schatten
Güldanes Herz aber raste. Sie hatte gesehen, dass zwei der Glühwürmchen ganz anders leuchteten, und erkannt, dass diese beiden Lichter auf dem Pfad ihres Schicksals standen. Sofort blies sie die Kerze aus, zog den Vorhang zu, rannte panisch zu ihrem Bett, verkroch sich unter die Decke, nahm einen tiefen Atemzug und atmete nicht aus, bis sie fast platzte. Sie zitterte. Sie spürte, dass schlimme, sehr schlimme Dinge passieren würden und sie keine Möglichkeit hatte, diese Dinge aufzuhalten. Wird es vielleicht jetzt, gleich jetzt losgehen? Gleich jetzt wird eine Faust gegen die Tür hämmern und ein Mann wird mit gemächlichen, aber kräftigen Schritten hereinkommen, Güldane aus dem Bett zerren und … Weder wird ihr Vater das verhindern können noch ihre Mutter, noch das ganze Universum, noch Gott.
Innerhalb einer Sekunde sprang sie aus dem Bett, leerte die Plastiktüte mit Safiyes Strickzeug aus und schlüpfte unter die Decke zurück. Sie wollte ihr Bewusstsein verlieren. Sie wollte, dass alle ihre Zellen, alle Zellen in ihrem Gehirn, in ihrem Körper starben und dass alle Schmerzen, die sie noch erleiden sollte, und alle Demütigungen und Katastrophen verschwanden. Vielleicht würde sie danach wiedergeboren werden. Als jemand anderes.
Yunus kam herein, lief schnurstracks auf Güldanes Bett zu und schlug die Decke zurück. Güldane lag mit einer blauen Plastiktüte über dem Kopf vor ihm. Er nahm ihr ohne Eile die Tüte ab, beugte sich zu ihr und horchte auf ihren Atem. Mit einem Finger stupste er ihren Arm an. Als er versuchte, ihre Augenlider zu öffnen, schubste Güldane ihn zurück. Yunus fiel auf den Rücken.
»Warum hast du abgebrochen?«, fragte er.
»Was geht dich das an?«
»Die hätten mich fast verprügelt.«
»Gut so. Hast du auch verdient.«
Yunus boxte Güldane in den Arm. Aufgebracht klammerte sie ihre Finger an seinen Hals.
»Ich bring dich um, du. Hebt man denn die Hand gegen die ältere Schwester?«
Yunus befreite sich aus Güldanes Griff, der ohnehin nicht besonders fest war. Seine Nerven lagen blank, beinahe hätte er losgeheult.
»Ich sage dir, fast hätten die mich verprügelt und du sagst mir, gut so.«
Güldanes
Weitere Kostenlose Bücher