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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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im freien Stil kreisend, das Rakıglas, das er am Rand festhielt, hierhin und dorthin schwingend oder um den Kopf drehend, tanzte er wie ein Blatt im Wind.
    Güldane betrachtete den ganzen Tag die Szenen, die sich vor ihr abspielten, so, als würde sie sich einen Film anschauen. Für Augenblicke ließ sie sich mitreißen, warf neunmalschlaue Worte in die Runde, schlug mit der Hand den Takt auf ihrem Schenkel; und dann, in einem anderen Moment, hängten sich ihre Gedanken an den Zipfel einer leichten Brise und flogen weit weg; bis sie ein kräftiges Schaudern zum Picknick auf der Baustelle zurückholte. Güldane merkte, dass sich eine Saite in ihr immer mehr anspannte.
    Es wurde Abend, der Mond stieg auf. Im Mondschein ging das Treiben noch eine Zeitlang weiter. Schließlich machten sie sich auf den Heimweg. Der Wächter war auf dem Bau geblieben, Safiye und Cevdet waren schon längst betrunken, und auch Yunus, der immer wieder heimlich an dem Rakı seines Vaters genippt hatte, war ordentlich blau.
    Als sie zu Hause ankamen, dauerte es fast eine halbe Stunde, bis der Vater den Schlüssel herausgekramt und die Tür aufgeschlossen hatte. Dann konnten sie endlich hinein. »Bring den Müll raus«, trug Safiye Güldane auf, während sie sich schon auf das Sofa fallenließ.
    Güldane ging mit dem Abfalleimer hinaus.

    Gegen fünf Uhr wachte Safiye auf, weil ihr fröstelte. Es ging ein unvertrauter Windzug durch das Haus; ihre Füße fühlten sich an wie Eisklumpen. Sie stand auf und lief zur Tür. Die stand offen!
    Warum stand sie offen um diese Nachtstunde?
    Safiye blickte hinaus. Alle Nachbarn, alle Ladenbesitzer, Insekten und Käfer schliefen. Sie schloss die Tür und kam zurück. Cevdet hatte sich quer aufs Bett geworfen und knarrte wie ein nicht geölter Flaschenzug. Sie öffnete leicht die Tür zum Zimmer der Kinder. Yunus hatte sein Tamburin umarmt, die Knie an den Bauch gezogen und sich mit einem Rand der Decke zugedeckt. Und Güldane?
    Güldane war nicht da! Weder in ihrem Bett noch im Zimmer, noch im Bad, noch im Sessel, noch auf dem Stuhl, noch am Rand des Fensters, noch in einem der Schränke, noch am Herd, noch zwischen den haarigen Wollfäden des Teppichs, noch in den Wasserkaraffen, noch unter einem Glas … Nirgendwo war sie.
    In diesem Augenblick durchbohrte ein schneidender Schmerz Safiyes üppige Brüste, ihre Rippen, ihre dicken Adern, ihre gewundenen Nerven und stach in ihr Herz. Ihr Aufschrei zerschlug die Teegläser mit feiner Taille, die mit bestickten Tüchern bedeckten Karaffen, riss Yunus und Cevdet aus dem tiefsten Schlaf, schlug einzeln an den Brandziegeln schräger Mauern auf, wälzte sich im Straßenschlamm, klopfte an jede Tür des Viertels und flog verzweifelt gen Himmel.
    Güldane hatte sich einfach in Luft aufgelöst.

Wut oder Verlangen
    Güldane leerte den Mülleimer in die Tonne unweit des Hauses und wollte gerade zurück, als sie von ein Paar Scheinwerfern geblendet wurde. Sie wurde nicht nur geblendet, sie wurde angegriffen. Zwar konnte sie nicht sehen, wer am Steuer saß, aber sie wusste, dass es Halil war. Nun war die Zeit gekommen.
    Im selben Moment, als Güldane das begriff, schleuderte sie den blechernen Eimer gegen die Frontscheibe des herannahenden Autos.
    Das Glas zersprang, wie Adern, wie ein Blitz am Himmel.
    Und gleichzeitig platzten Nerven in Halils Gehirn, als habe der Blitz in seinen Kopf eingeschlagen. Ohne das leiseste Zögern steuerte er den Wagen auf Güldane zu.
    Sie rannte los wie ein Windhund. Obwohl ihr Atem zu einer Schlinge um ihre Füße wurde, preschte sie los; jetzt war nicht die Zeit zu schreien, um Hilfe zu rufen. Jetzt war die Zeit Halils. Er dosierte das Gas so, dass er ihr weder erlaubte zu fliehen, noch fuhr er sie an. Er war direkt hinter Güldane, heftete sich an ihren Nacken. Er gab ihr keine Gelegenheit, sich nach rechts oder links zu werfen oder zurückzuschauen. Güldane konnte dem Tode nur entkommen, indem sie rannte und ihr Tempo nicht verlor. Ihr Leben durfte jetzt nur einen einzigen Sinn haben: sich selbst zu retten.
    Dieser Moment bereitete Halil ein seltsames Vergnügen, das er noch nie gekannt hatte. Er fühlte sich wie der Herrscher der Welt. Das Schicksal. Gott. Mit nur einer kleinen Regung seiner Muskeln könnte er leben lassen oder vernichten.
    Er sah Güldanes Gesicht zwar nicht, spürte aber den Schrecken, der sich in ihrem Antlitz abzeichnete. Er spürte ihre Herzschläge, den Rhythmus ihres Atems. Diese Angst kannte Halil. Und sie

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