Der hinkende Rhythmus
und fluchte über unbekannte Feinde, aber vor allem nahm sie sich mit einer Leichtfüßigkeit, die man von ihrem schweren Leib nicht erwartet hätte, mit geschickten Handgriffen, mit ihren starken Armen, ihrer Tochter an.
Güldane lag tagelang krank im Bett. Manchmal hatte sie vierzig Grad Fieber, sprach unverständliche Worte im Delirium, schwitzte und zitterte. Immer wieder schlief sie ein. Hier und da entstanden Schwellungen auf ihrer Haut, dann ließen sie nach, und Rötungen und Entzündungen kamen an anderen Stellen zum Vorschein. Ihr Körper brach zu zahllosen Krankheiten auf und kehrte wieder zurück.
Sie beantwortete keine einzige der Fragen, die gestellt wurden, wenn sie einigermaßen klar im Kopf war. Wo war sie gewesen, was hatte sie getan, war ihr etwas zugestoßen, warum war sie nass, war sie ins Wasser gefallen, wer hatte sie nass gemacht, war sie geflohen, hatte sie jemand entführt, hatte ihr jemand etwas angetan, warum sprach sie nicht, wollte sie etwas verheimlichen? All diese Fragen stellte Safiye ihrer Tochter. Wenn es ihr besser ging, fragte sie in strengerem Ton, wenn ihr Fieber stieg, fragte sie ganz sanft. Aber sie fragte immerfort. Güldane antwortete nie. Sehr selten machte sie den Mund auf und gab ein Wort von sich. Sie sprach zum Beispiel einige Male, um zu sagen, dass sie nicht zum Arzt gehen wollte. Und dass sie nicht zur Polizei geht, das sagte sie auch. Sie wollte niemanden anzeigen. So blieb es für die Familie ein Geheimnis, wo sie sich aufgehalten hatte, während man sie hier vermisste, und was alles mit ihr geschehen war.
Nach Güldanes Rückkehr blieb der Mund Cevdets für lange Tage verschlossen. Er fragte nicht, wie es dem Mädchen ging, und schlug auch nicht vor, sie zum Arzt zu bringen. Er betrat nicht einmal das Zimmer, um nach ihr zu sehen. Morgens verließ er wortlos das Haus und fuhr zur Baustelle. Abends kam er spät zurück und legte sich ins Bett, ohne etwas zu essen. Er wandelte wie ein Geist, obwohl er keinen einzigen Schluck trank!
Safiye konnte sich das irgendwann nicht länger ansehen und stellte ein Glas Rakı vor Cevdet.
»Trink«, sagte sie, »du wirst jetzt trinken!«
Sie klang so streng, dass ihr Mann nicht zu widersprechen wagte und trank. Als das Glas leer war, füllte Safiye nach. Cevdet trank wieder. Noch eins … und noch eins … So wurde sein leerer Magen mit Rakı verputzt, sein Kopf, seit einiger Zeit hart wie Stein, wurde allmählich weicher und seine Zunge begann sich zu lösen.
»Aus«, sagte er. »Es ist alles aus. Mitten in diesem ganzen Beton hier hat man früher Ehre gehabt und jetzt hat man nur noch Schande, man ist anständig gewesen und jetzt ist man ein Nichts. Hast du verstanden? Diese Stadt hat uns vernichtet.«
Safiye hatte nichts verstanden. Sie bohrte ein wenig nach: was ist aus, warum sind wir ein Nichts, was hat Beton mit Ehre zu tun? Aber sie bekam keine Antwort. Cevdet reihte noch ein paar unverständliche Worte aneinander. Dann sah er lange hinaus in die dunkle Nacht und schlief im Sitzen ein. Jedenfalls glaubte Safiye, er sei eingeschlafen.
In jener Nacht war der Bann gebrochen, und Cevdet nahm alle Missetaten wieder auf, denen er nach der Entlassung aus dem Gefängnis abgeschworen hatte. Nun konnte ihn kaum noch jemand nüchtern antreffen. Ein Glas Rakı nach dem anderen, danach ein Joint, danach ein Bier, danach eine Pille, danach ein Joint, danach Rakı … er fiel in einen Strudel hinein, der ins Bodenlose führte. Und er unternahm nicht den geringsten Versuch, dort wieder herauszukommen. Er schlug alle Mahnungen in den Wind. Morgens frühstückte er mit Bier und einem Joint und kehrte zu später Abendstunde heim, sein Kopf eine Welt für sich, seine Gedanken zwischen den Sternen.
Sogar der Rauch, der vom Schornstein des Hauses aufstieg, war irgendwie seltsam geworden. Jetzt war er noch dunkler, noch verwirrter, stieg jetzt noch höher.
Kurze Zeit später, Güldane hatte sich soweit erholt, dass sie, wenn auch mit Mühe, ihr Bett verlassen und kleine Einkäufe tätigen konnte, traf eine schlimme Nachricht im Viertel ein: Cevdet hatte einen Arbeitsunfall!
Vorneweg Safiye, Yunus und Güldane, in ihrem Gefolge das ganze Viertel, hasteten sie zu der Baustelle der Wohnblocks, wo Cevdet arbeitete, und bald erfuhren sie, was dort geschehen war. Wie es auch gekommen sein, was für einen Streich das Schicksal gespielt haben mochte, Cevdet wurde unter dem Mörtel begraben, den ein Betonmischfahrzeug ausgekippt hatte.
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